Tag 644: Gefährliches Mitleid – Teil 1

von Heiko Gärtner
10.10.2015 23:46 Uhr

Der zweite Gedankengang, der uns an diesem Abend beschäftigte, drehte sich um das Thema Mitleid. Genauer gesagt darum, wie viel Schaden dieses Mitleid anrichtete, obwohl wir meist glauben, jemandem damit etwas gutes zu tun.

Gehen wir einmal vom offensichtlichsten Beispiel aus. Ein Mensch erfährt, dass er Krebs hat und erzählt es seiner Familie. Diese reagiert nun mit Mitleid und ist so bestürzt über die Nachricht des Kranken, dass keiner mehr in der Lage ist, dessen Gefühle auch nur wahrzunehmen. Oft ist es in diesen Situationen am Ende der Kranke selbst, der die Angehörigen trösten und aufmuntern muss, da diese so sehr in Sorge um ihr geliebtes Familienmitglied sind, dass es ihnen schlechter geht, als dem Betroffenen selbst. „So schlimm ist es ja auch wieder nicht! Die Ärzte sagen ich habe noch gute Chancen, wenn …“ und so weiter. Die Idee ist es, das Leid des anderen zu teilen und ihm das Leben so zu erleichtern, doch in Wirklichkeit vergrößert man es dadurch nur noch weiter. Der Spruch „Geteiltes Leid ist halbes Leid!“ funktioniert also nur dann, wenn der Zuhörer beim Leidenden bleibt und nicht in Form von Mitleid in eine eigene Krise rutscht.

Weil fast alle Menschen dieses Mitleid als unangenehm empfinden, trauen wir uns oft gar nicht mehr über unsere Probleme, Sorgen und Ängste zu sprechen. Wir wollen die anderen nicht beunruhigen und wir haben Angst, das wir sie durch unsere Offenheit auch mit ins Leid hineinziehen. Das ist wahrscheinlich eine der Antworten auf die oben gestellte Frage nach dem Grund unserer ewigen Schauspielerei. Wir haben Angst vor dem Mitleid der anderen.

Was wir stattdessen brauchen ist Mitgefühl, was für die meisten Menschen zwar das gleiche ist, sich jedoch grundlegend vom Mitleid unterscheidet. Beim Mitleid ist die Grundhaltung eine bewertende. Wir sehen einen Menschen und urteilen über seine aktuelle Lage, die wir als schlecht oder negativ einstufen. „Diesem Menschen geht es schlechter als mir! Und wenn ich das sehe, dann geht es mir auch gleich schlecht, weil ich der Meinung bin, dass es Leid auf der Welt eigentlich überhaupt nicht geben sollte!“

Mitgefühl hingegen erfordert ein Verständnis. Es ist der Versuch, sich in den anderen Menschen hineinzuversetzen und nachzuvollziehen, was er fühlt, ohne aber die Gefühle als eigene anzunehmen und ohne sie zu bewerten. Es mag sein, dass der andere in dieser Sekunde sehr stark leidet, doch wir haben keine Ahnung, ob dieses Leid nicht genau das ist, was er gerade benötigt um wachsen zu können. Vielleicht geht es diesem Menschen, gerade weil er leidet, sehr viel besser als uns selbst und wir könnten viel von ihm lernen, wenn wir nicht so damit beschäftigt wären, seine Situation als schlecht zu verurteilen. Auch dies war eine Sache, die wir auf der Obdachlosentour viele Male erleben durften. Einmal saßen wir unter einer Brücke in Nürnberg und sprachen mit den Jungs, die dort wohnten. Es war Winter und nachts fielen die Temperaturen teilweise auf -20°C. Die Obdachlosen erzählten uns, dass sie aufgrund dieser Temperaturen eine Wache aufstellen mussten, um zu verhindern, dass sie zu viele Schlafsäcke und Decken geschenkt bekamen. Viele Menschen hatten Mitleid mit den Männern, die dazu gezwungen waren, ihre Nächte unter der Brücke zu verbringen und so wollten sie ihnen etwas gutes tun, damit es ihnen besser ging. Keiner machte sich jedoch die Mühe, die Jungs wirklich zu fragen, was sie brauchten, denn dann hätte er erfahren, dass sie bereits bestens versorgt waren. Die Polizei schaute jedoch regelmäßig nach dem Rechten und achtete penibel darauf, dass die Schlafstätte unter der Brücke nicht verwahrloste. Wenn die Obdachlosen nicht genau darauf achteten, dass sie alles überflüssige ablehnten, dann liefen sie Gefahr, von hier vertrieben zu werden. Doch sie liebten diesen Platz und wahren stolz darauf, die einzigen ihnen bekannten Obdachlosen zu sein, die auch im Winter auf der Straße schliefen und nicht wie die ganzen Weicheier in irgendeine Unterkunft rannten. Als wir den Männern ein halbes Jahr später noch einmal einen Besuch abstatteten und fragten wie es ihnen ging, antworteten sie: „Beschissen! Dieser Sommer ist echt das letzte! Kein Schwein gibt uns mehr etwas, weil jeder denkt, dass wir alleine zurecht kommen! Ich muss jetzt sogar in die Innenstadt gehen um dort zu Betteln, damit ich genug Geld für mein Bier zusammen bekomme! Kannst du dir das vorstellen? Der Winter war einfach! Da lag morgens immer schon genug auf meinem Kopfkissen, noch ehe ich überhaupt aufgewacht bin!“

In diesem Falle hatte das Mitleid also sogar doch noch gewisse Vorteile für die Jungs, wenn auch nur, weil sie erkannt haben, wie sie ihren Nutzen aus dem System ziehen können. Doch betrachten wir das ganze noch einmal mit ein bisschen mehr Distanz und fragen uns, wie hilfreich diese Hilfe wirklich ist.

Die Obdachlosen haben aufgrund ihrer eigenen Lebensthemen bereits alles verloren, das sie auf irgend eine Art festhalten könnte. Sie hatten keinen Job, kein Zuhause, waren Alkoholabhängig und das größte Ziel in ihrem Leben war es, zwei Weihnachten hintereinander auf freiem Fuß zu verbringen, ohne dazwischen auch nur ein einziges Mal eingebuchtet zu werden. Kurz, sie lagen bereits vollkommen am Boden und es gab nichts mehr, wohin sie noch fallen konnten. Damit hatten sie die absoluten Idealbedingungen, um aufzustehen und ihr Leben zu beginnen. Denn es gibt keinen einfacheren Startpunkt auf dem Weg zur Erleuchtung, als wenn man vollkommen am Boden ist.

Warum?

Stellt euch einmal vor, es würde eine Fee zu euch kommen, die euch sagt, dass sie euch den Weg ins Paradies zeigen könne. Sie führt euch an einen neuen Ort und in ein neues Leben, in dem alles wahr wird, das ihr euch aus tiefstem Herzen heraus wünscht. Ihr könnt in ewigem Frieden und dauerhafter Glückseligkeit leben, seit fit und agil bis ins hohe Alter, seit immun gegen jede Art der Krankheit und der körperlichen Schwäche und habt nur noch bereichernde, schöne und erfüllende Beziehungen, die euch stärken und nähren. Alles, was ihr tun müsst, um in dieses Paradies zu gelangen ist, der Fee zu vertrauen, dass sie euch auch wirklich dort hinführt, denn einen Beweis dafür, dass sie es echt meint gibt es nicht. Ihr habt nur ihr Wort und ihre vertrauenserweckende Feen-Ausstrahlung. Um losgehen zu können, müsst ihr jedoch alles, was ihr besitzt aufgeben und hinter euch zurücklassen. All euer Geld, all euren Besitz, euer Land, euer Auto, das Fahrrad, den Fernseher, die Arbeit, die Freunde, Kollegen und auch eure Familie. Denn jeder in eurem Umkreis bekommt das gleiche Angebot von einer Fee und kann sich selbst entscheiden, ob er mitgehen wird oder nicht. Ihr könnt euch jedoch nicht absprechen und wisst somit nicht, ob ihr vollkommen alleine oder im Kreis eurer Liebsten aufbrechen werdet. Wie würdet ihr euch entscheiden?

Jetzt stellt euch vor, ihr müsstet die gleiche Entscheidung treffen, würdet aber in einem Slum in Afrika leben, wo jeden Morgen die giftige Brühe aus einer nahegelegenen Aluminiumverhüttung an eurem Wellblechverschlag vorbeifließt. Würde euch die Entscheidung dann leichter, oder schwerer fallen? Ein anderes Beispiel: Ihr habt ein nettes kleines Strandhaus in Italien, in dem ihr gut 300 Tage die Sonne genießen könnt, dafür jedoch die nahegelegene Schnellstraße in Kauf nehmen müsst, die euch Nachts in den Schlaf rauscht. Macht dies die Entscheidung leichter oder schwerer?

Ihr merkt sicher worauf das hinausläuft. Wenn wir in einem Käfig sitzen, dann ist unsere Motivation auszubrechen um so größer, je unangenehmer wir ihn empfinden. Je gemütlicher, schöner, komfortabler und daher wertvoller er uns erscheint, desto schwerer fällt es uns ihn zu verlassen. Der Grund ist der, dass wir nicht wissen, ob eine Veränderung auch eine Verbesserung bringt. Was ist, wenn die Fee lügt und wir am Ende vollkommen ohne etwas da stehen? Oder wenn wir wieder nur an einem mittelmäßigen Platz mit mittelmäßigem Glück landen? Da ist es doch sicherer, alles beim Alten zu lassen.

Deshalb sind die Obdachlosen in einer so chancenreichen Position. Sie haben nichts mehr zu verlieren und können das Angebot der Fee daher leicht annehmen. Im schlimmsten Fall ändert sich dadurch einfach nichts, aber die Chancen stehen gut, dass es um ein vielfaches besser wird. Dies ist wahrscheinlich einer der Gründe, warum wir unter den Obdachlosen auf den Straßen Deutschlands mehr Menschen trafen, die sich selbst wirklich reflektieren und die aus ihrem bisherigen Verhalten lernen konnten, als je zuvor und je danach. Fast jeder, der eine längere Zeit auf der Straße gelebt hatte wusste, dass er es war, der sich in diese Situation gebracht hatte und dass nur er sich auch wieder herausbringen konnte. Doch genau an dieser Stelle funkt das Mitleid der Menschen dazwischen und verhindert, dass wirklich jemand etwas ändert. Denn der Obdachlose liegt auf dem Boden, er weiß dass er selbst dafür verantwortlich ist und er weiß, dass er jetzt nur noch zwei Möglichkeiten hat. Entweder er steht auf und nimmt sein Leben selbst in die Hand, oder er bleibt liegen und stirbt. Doch genau in diesem Moment kommt ein Passant vorbei, sieht den armen, leidenden Mann und sagt: „Oh, das tut mir Leid, dass es dir so schlecht geht! Hier hast du eine Decke, damit du dich einkuscheln und schön in der Gosse liegen bleiben kannst! Und hier ist noch ein Bier, damit du in deiner Sucht bleiben und deine Gefühle nicht mehr spüren musst!“

Sofort ist jede Motivation, jede Absicht etwas zu wandeln dahin. Man nimmt das Bier, bleibt liegen, suhlt sich in seinem Leid und genießt die Aufmerksamkeit, die man dafür bekommt.

Fortsetzung folgt ...

 

Spruch des Tages:

I choose To life by choise and not by chance To be motivated, not manipulated To be usefull not used To make changes not excuses To excel not compet I choose selfesteem not selfpitty I choose to listen to my inner voice, not to the random opinions of others.

Ich entscheide mich dafür, nach meinen Entscheidungen und nicht nach dem Zufall zu leben, motiviert zu sein und nicht manipuliert, nutzvoll zu sein und nicht benutzt zu werden, Veränderungen zu machen und keine Ausreden, herausragend zu sein aber kein Konkurrent Ich entscheide mich für Selbstachtung nicht für Selbstmitleid Ich entscheide mich dafür, auf meine innere Stimme zu hören und nicht auf die wechselnden Meinungen anderer.

Höhenmeter: 310 m

Tagesetappe: 28 km

Gesamtstrecke: 11.451,27 km

Wetter: teils sonnig, teils bewölkt

Etappenziel: Zeltplatz auf einem Feld, kurz vor Boshanj, Albanien

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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