Aufmerksamkeit - Fährtenlesen im Alltag

von Franz Bujor
11.03.2014 17:43 Uhr

Tage bis zu Heikos erstem Geburtstag auf der Weltreise: 3!

Langsam verschmelzen die einzelnen Tage zu einem Einheitsbrei. Die Landschaft ist einfach so unendlich und immer gleichbleibend, dass wir sie kaum noch beachten. Hin und wieder wird unser Blick durch eine Auffälligkeit gefangen genommen. Einen urigen Baum, ein altes verrostetes Auto, ein Fluss, eine Aussicht über ein unendlich wirkendes Tal oder ein halb verfallenes Schloss. Doch dazwischen zieht die endlose Weite an uns vorbei, als würde sie überhaupt nicht existieren. Blicke nach links oder rechts werfen wir immer seltener. Doch während ich immer wieder in meine Gedankenwelt abgleite und wirklich nur noch wie in Trance laufe, erstaunt es mich jedes Mal aufs neue, wie viel Heiko um uns herum wahrnimmt. „Boah, hast du das Rebhuhn gesehen?“ rief er unvermittelt und riss mich damit so sehr aus meinen Gedanken, das ich fast zusammenzuckte. Das Rebhuhn war natürlich längst weg. Andere Dinge waren langsamer und ich entdeckte sie noch, nachdem mich Heiko darauf hingewiesen hat. Doch fast immer war es, als würden diese Dinge, erst mit seinen Worten in meiner Realität auftauchen. „Schau dir diesen alten Bus dort an!“ rief er kurz vor einer Pause. Er zeigte auf eine Hecke, über die mein Blick erst kurz zuvor gewandert war. Jetzt stand wirklich plötzlich ein Bus da obwohl ich hätte schwören können, dass das zuvor nicht der fall gewesen war. Noch frappierender war es bei Begegnungen mit Menschen. Heute in der Früh trafen wir zwei ältere Herrschaften, die uns ansprachen und die ganz begeistert etwas über unsere Reise hören wollten. Ich konnte im nachhinein noch sagen, dass er graue Haare gehabt hatte und das sie ein rotes Halstuch, eine dunkle Jacke und eine Brille trug. Ich hatte bemerkt, dass sie sehr nett waren und ich freute mich darüber, dass sie uns mit einer kleinen Spende unterstützen. Doch dann hörte es auch schon auf.

 
Ein französisches Chateau

Ein französisches Chateau.

 

„Ist dir die unglaublich tiefe Rille in seiner Zunge aufgefallen?“ fragte Heiko, als wir weitergingen.

„Nein!“ gestand ich. „Ehrlichgesagt könnte ich grad nicht einmal sicher sagen, ob der Mann überhaupt eine Zunge hatte.“

„Na du bist mir ja mal wieder ein Profiler!“ frotzelte er. „Hast du dann wenigstens den kreisrunden Haarausfall bemerkt?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Dann die kleinen Adern an seiner Nase, die auf seine Herzprobleme hingedeutet haben?“ fragte er weiter.

„Leider auch nicht“, gab ich zu.

„Ok, und bei ihr? Hast du bemerkt, dass sie die dritten Zähne hatte?“

„Verdammt, nein!“ erwiderte ich.

„Gut, hatte sie auch nicht! Ich wollte dich nur testen. Aber du merkst worauf ich hinaus will? Egal in welchem Bereich du weiterkommen willst, Aufmerksamkeit ist immer der erste Schritt. Beim Lernen der Vogelsprache genauso wie bei der Antlitzdiagnose, beim Profiling, bei der Orientierung und beim Verstehen von Zusammenhängen in der Natur und in zwischenmenschlichen Beziehungen. Du erinnerst dich doch noch daran, was wir von den Medizinleuten gelernt haben. Wenn man die geistige Welt verstehen und die eigene Intuition schulen will, muss man zunächst lernen, genau zu beobachten.“

 
Ein Fuchsskelett

Ein Fuchsskelett.

 

Ich erinnerte mich an eine Geschichte über einen alten Indianer, von dem die Menschen sagten, er könne Hellsehen. Alles was er tat, war seine Umgebung wahrzunehmen. Er beobachtete den Wind, die Vögel, die Bäume, die Insekten und jedes kleine Detail, was es zu sehen gab. Gleichzeitig ließ er aber nie das gesamte Geschehen aus den Augen. Dadurch bekam er so viele Informationen, die ihm sagten, was als nächstes passieren würde, dass es für ihn keine Hellseherei, sondern eine logische Schlussfolgerung war. Keine leichte Lernaufgabe, aber wenn man es schaffte eröffneten sich dadurch völlig neue Türen in ganz andere Dimensionen.

„Überleg einmal, wie viel Sicherheit es auch bedeutet, die kleinen Details in der Mimik, Gestik und Haltung von Menschen zu erkennen. Wenn du die Haltung eines Menschen nicht deuten kannst, wie willst du dann frühzeitig wissen, ob er dir wohlgesonnen ist oder nicht? Wenn du die Mikrogesten nicht lesen kannst, woran willst du dann erkennen, dass jemand wütend wird und dich vielleicht schlagen wird? Achte einmal auf die Augen der Menschen, wenn du sie das nächste Mal nach etwas zu Essen oder einem Schlafplatz fragst. Wenn sie die Augenbrauen zusammenkneifen ist das ein deutliches Zeichen dafür, dass sie skeptisch oder ablehnend auf dich reagieren. Ziehen sie die Brauen nach oben, ist es ein Zeichen dafür, dass sie sich über deinen Besuch freuen. Aber du musst schnell sein. Es sind nur Mikrogesten, die nur für den Bruchteil einer Sekunde sichtbar sind.“

 
Auch die Ausdrücke der Tiere verraten sehr viel

Auch die Ausdrücke der Tiere verraten sehr viel.

 

In fast allen Fällen, in denen ich eine Gelegenheit dazu bekam, vergaß ich es darauf zu achten. Es fiel mir jedes Mal erst hinterher ein. Einmal aber schaffte ich es und dieses Mal waren die Augenbrauen ganz klar zusammengezogen. Es war am Abend, als wir in der Pfarrei von La Châtre nach einem Schlafplatz fragten. Ein kleiner, dunkelhäutiger Mann mit einer kahlen Stelle auf dem Kopf öffnete uns die Tür und sah mich skeptisch an. Als ich damit begann unsere Geschichte zu erzählen, drehte er seinen Kopf zur Seite und starrte Heiko an, der links von der Tür auf einer Mauer saß. Deutlicher hätte er mir nicht das Gefühl geben können, dass ich ihn nicht interessierte. Ich war ein bisschen frustriert, spach aber trotzdem weiter. Der Mann antwortete mit einer sehr leisen und gedämpften Stimme und ich verstand kein Wort von dem was er da sagte. Nachdem ich mir drei mal die Zunge gebrochen hatte, beim Versuch es herauszufinden, sagte er, dass ich ruhig auch in Englisch sprechen könne.

 
Das Zentrum von La Châtre

Das Zentrum von La Châtre.

 

Aufnehmen könne er uns schon, sagte er dann, das Problem sei nur, dass er nach Paris fahren müsse und deshalb morgen niemand da wäre, dem wir den Schlüssel geben könnten. Jedenfalls nicht vor 9:00Uhr. „9:00Uhr passt uns perfekt!“ antwortete ich und der Mann war einverstanden. Er führte uns in ein Nebengebäude mit der Aufschrift „Empfang für Pilger“ an der Tür. Der Empfang der den Pilgern hier bereitet wurde war recht speziell. Links schaute ein nacktes Stromkabel aus der Wand und die gelb-beige Blümchentapete hing in langen Fetzen von der Wand. Wir gingen eine steile Treppe hinauf und kamen in einen großen Raum mit fünf Betten und einem Tisch. Verglichen mit dem Treppenhaus war er in einem sehr guten Zustand und machte den Eindruck als könne man es hier gut aushalten. Vor allem die großen Heizkörper überzeugten uns. Denn obwohl wir am Tag wieder mindestens 30°C in der Sonne gehabt haben müssen, wurde es in den Nächten noch immer bitterkalt. Außerdem waren unsere Wäsche und besonders unsere Socken dringend waschbedürftig und so hatten wir ausreichend Platz um sie zu trocknen. „Begleitet mich noch einmal in mein Büro,“ sagte der Pfarrer, „Ich brauche noch eure Namen!“

Ein beeindruckender Turm in La Châtre.

Ein beeindruckender Turm in La Châtre.

Wir taten wie geheißen und folgten ihm zu einem großen dunklen Schreibtisch. Es schlug ein großes Buch auf und fragte uns nacheinander nach unseren Namen, unserem Alter, unserem Aufbruchsort und dem heutigen Datum.

„Wegen der Bezahlung...“ sagte er dann und gab damit offen zu, dass er mir wirklich nicht zugehört hatte.

„Ähm,“ sagte ich, „wir reisen ohne Geld, ...“ setzte ich zu einer Erklärung an.

„Aha,“ unterbrach er mich, „dann also keine Bezahlung! Auch OK! Braucht ihr einen Stempel für euer Pilgerheft?“

La Châtre: Der Kirchturm.

La Châtre: Der Kirchturm.

Ich nickte und holte unsere Pilgerpässe hervor. Der Pfarrer verschwand im Nebenraum und begann lauthals ein Lied über die heilige Mutter Gottes zu trällern. Als er sich wieder an den Tisch setzte, trällerte er noch immer. Ich reichte ihm den Pass und er schlug den Stempel darauf. Es war ein runder Stempel mit einem Kreuz in der Mitte und einem kleinen Schriftzug außen herum. Lustiger Weise hatte er ihn jedoch falsch herum gehalten, so dass das Symbol in unserem Heft nun kein christliches  sondern ein satanistisches war. Irritiert schaute er auf sein Werk, zuckte mit den Schultern und stempelte den zweiten Pass ebenfalls mit einem Satanskreuz. Beim ersten Mal waren wir bereits recht amüsiert. Aber als er den gleichen Fehler zum zweiten Mal wiederholte, obwohl er bereits gemerkt hatte, dass es so nicht richtig war, mussten wir uns ernsthaft zusammennehmen um nicht laut loszuprusten. Währenddessen schmetterte er noch immer sein Ave Maria. Dann malte er mit seinem Zeigefinger jeweils ein kleines Kreuz vor Heiko und mich in die Luft um uns zu segnen und wünschte uns eine gute Nacht. Ob er das Kreuz bei der Segnung richtig herum malte, ließ sich nicht erkennen, aber wo wir schon Satanskreuze in unseren Pilgerausweisen hatten, sprach ja auch nichts dagegen, sich noch im Namen des Fürsten der Unterwelt segnen zu lassen. Man weiß schließlich nie wofür es gut ist.

Bevor es dunkel wurde, drehten wir noch einmal eine kleine Runde durch den Ort. Er hatte etwas mehr als 4000 Einwohner und war damit für diese Region eine richtige Stadt. Viel zu sehen gab es allerdings nicht. Die Kirche war zwar recht hübsch aber auch genauso verbaut. Die einzige wirkliche Sehenswürdigkeit waren zwei gigantische Zypressen im Stadtpark, die gefühlte 1000 Jahre alt sein mussten. Sie hatten eine so erhabene und ehrfurchterweckende Ausstrahlung, dass sie mich ganz in ihren Bann zogen.

 
Nächtlicher Spaziergang durch La Châtre

Nächtlicher Spaziergang durch La Châtre.

 

Der Dönerhändler gegenüber spendierte uns ein Abendessen. Außer uns saß noch eine junge Familie im Restaurant des kleinen Imbisses. Sie bestand aus einer Oma, einem Mann, einer Frau und ihrem etwa einjährigen Kind. Das Baby tat das, was Babys in diesem Alter normalerweise so tun. Es war neugierig, versuchte alles anzufassen, was sich in seiner Reichweite befand und schaute, was passiert wenn man Dinge fallenließ. Jedes Mal wenn es das tat, bekam es von seiner Mutter eins auf die Finger. Danach begann es zu weinen und handelte sich dadurch wiederum Ärger ein. Irgendwie erinnerte uns diese Situation an die Begegnung mit dem kleinen Hund vor ein paar Tagen, der von seinem Herrchen geschlagen wurde. Die Mutter schlug nicht stark aber doch so, dass es unangenehm war und das kleine Kind konnte die Situation genauso wenig verstehen wie zuvor der kleine Hund. Wenn sie so weiter machte, dann würde sie das Kind traumatisieren, noch ehe es auch nur sprechen konnte. Später würde es sich wahrscheinlich nie an diese Situation erinnern, doch die Ängste, die in diesem Moment entstanden, würden bleiben. Ob sich die Mutter wohl Gedanken darüber machte?

Spruch des Tages: Aufmerksamkeit ist der Schlüssel zur Weisheit.

 

Tagesetappe: 18,5 km

Gesamtstrecke: 1417,97 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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