Tag 751: Wegwerfgesellschaft

von Heiko Gärtner
21.01.2016 17:54 Uhr

Eigentlich hätten wir es ja besser wissen müssen, als unsere Wagen an einem Ort verstauen zu lassen, den wir ohne unseren Gastgeber mehr öffnen konnten. Schließlich war es uns schon häufig passiert, dass wir lange Zeit auf jemanden warten mussten, der dann nicht oder erst sehr spät auftauchte. Doch die endlose Treppe hinunter in unser Atelier hatte uns abgeschreckt und so hatten wir uns am Ende doch breitschlagen lassen, unsere Wagen durch die halbe Stadt in ein kleines Verließ zu fahren, das mit einem großen Vorhängeschloss gesichert war. Eigentlich wollte Vito am Morgen selbst kommen, uns verabschieden und uns die Tür wieder aufsperren, doch später am Nachmittag war ihm eingefallen, dass dies nicht möglich war. Er musste bereits um 6:30 Uhr zu einem Termin und wenn wir ihn treffen wollten, dann müssten wir spätestens um 6:00 Uhr das Haus verlassen. Da das auch nicht besonders attraktiv klang, einigten wir uns schließlich darauf, dass wir uns um 9:00 Uhr mit seinem Vater vor der Tür trafen.

„Ihr müsst dann aber auch wirklich bereit sein!“ mahnte uns Vito, „Nicht dass mein Vater lange warten muss!“

Pünktlich um zehn vor neun standen wir fix und fertig vor der Tür. All unsere Sachen waren gepackt und lagen sorgfältig aufeinander gestapelt neben einem Blumenkübel auf dem Gehweg. Das einzige, was jetzt noch fehlte war unser Schlüsselmeister.

Bis um zehn nach neun machten wir uns keine Gedanken. Pünktlichkeit wurde hier ja ganz allgemein nicht besonders groß geschrieben und wenn jemand weniger als eine Viertelstunde Verspätung hatte, dann war das schon fast ein Grund um sich sorgen zu machen. Um halb zehn wurden wir dann langsam nervös. Die Straße war nicht der schönste Platz zum warten, es wurde allmählich kalt und außerdem hatten wir noch einiges an Strecke vor uns.

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Fünf Minuten nach halb wählte ich das erste Mal Vitos Nummer und fragte, ob er seinem Vater auch wirklich bescheid gegeben hatte. Er versicherte mir, dass alles in Ordnung sei und dass er sicher gleich kommen würde. Doch er kam nicht. Wir liefen hinunter zum Brautmodengeschäft von Vito und schauten nach, ob der Vater vielleicht an dem kleinen Verschlag wartete, in dem unsere Wagen gefangen gehalten wurden. Doch auch hier war nichts zu sehen.

In der nächsten halben Stunde sprachen wir mindestens zehn ältere Männer an, ob es sich bei ihnen zufällig um den Vater von Vito handelte. Doch keiner gab zu, einen Sohn mit diesem Namen zu haben, der ihnen einen Schlüssel übergeben hatte.

Um zehn Uhr rief ich Vito ein weiteres Mal an. Der Vater sei nur kurz unten an der Schule um die Enkeltochter in den Unterricht zu bringen. Danach wäre er sofort bei uns. Wieder warteten wir rund zehn Minuten. Dann endlich hielt ein Auto neben uns an, aus dem ein grauhaariger Herr herausschaute. Es war wieder nicht Vitos Vater, aber ein Mann, den wir bereits vor einer halben Stunde dafür gehalten hatten.

„Ich habe den Mann gesehen, den ihr sucht!“ rief er. „Er kommt gerade die Straße hinauf!“

Das tat er tatsächlich. Er war ein kleiner, grimmiger Mann mit einem großen Hut, der uns kommentarlos zu sich herwinkte und uns dann vorausging. Er wirkte irgendwie, als wäre er schlecht drauf, fast so als hätten wir ihn über eine Stunde in der Kälte stehen gelassen und nicht andersherum. Ohne ein Wort zu sagen schloss er die Tür auf und ließ unsere Wagen frei. Dann nickte er zum Gruß und verschwand.

Als wir gestern auf der Straße in den Ort hineingewandert waren, war sie fast vollständig unbenutzt gewesen. Nun gab es kaum noch eine Lücke zwischen den vorbeirauschenden Autos. Irgendetwas musste sich also verändert haben. Ob es der Vorweihnachtsstress war, der die Leute allesamt verrückt machte und dazu brachte, wie die Wilden hin und herzufahren? Die Straße war jedenfalls fast unerträglich und wir waren mehr als nur froh, endlich von ihr abbiegen zu dürfen.

Unser nächster Zielort war ein Dorf, das sich über zwei aufeinanderfolgende Berggipfel erstreckte. Es hatte etwa 7000 Einwohner und drei Pfarrer. Gleich beim ersten hatten wir Glück. Er war zwar zunächst etwas skeptisch, ließ sich dann aber doch dazu breitschlagen, uns das Vorzimmer von seinem Büro zur Verfügung zu stellen. Den Hauptverdienst für diese Meinungsänderung leistete ein junger Mann namens Antonio, der einer von drei Kirchenmusikern war, die gerade zuvor in der Kirche geprobt hatten. Seine Familie lebte gegenüber vom Pfarrer und war eng mit ihm befreundet.

„Braucht ihr auch etwas zum essen?“ fragte der Pater.

Wir nickten.

„Gut!“ sagte er, „Ich selbst habe nichts, aber ich bin heute bei Antonios Familie zum Mittag eingeladen und wenn ihr wollt, könnt ihr einfach mitkommen.“

Wir begleiteten Antonio zu seinen Eltern und setzten uns in Wohnzimmer, wo wir seine Mutter und seine Tochter kennenlernten. Beide bereiteten gemeinsam das Mittagessen vor. Es gab selbst gesammelte Pilze, mit Schweinemedaillons, als Hauptgericht und verschiedene Antipasti mit Oliven, Auberginen und anderen Spezialitäten als Vorspeise. Dazwischen gab es, wie hätte es auch anders sein sollen, die obligatorischen, italienischen Nudeln. Die Nudeln selbst waren dieses Mal sehr gut zubereitet, nur die Muschelsauce schmeckte etwas zu stark nach Meer. Früher hätten wir es wohl darauf geschoben, dass Meeresfrüchte einfach nicht unser Fall waren, doch nach der Kostprobe in dem Spezialitätenrestaurant von vor ein paar Tagen waren wir nun anderer Meinung. Man konnte Muscheln durchaus so zubereiten, dass sie fantastisch schmeckten, nur war dies eine Kunst, die kaum jemand beherrschte. Schade war nur, dass die Nudelportion so groß war, dass wir kaum noch etwas von der Hauptspeise hinunterbrachten, obwohl diese wirklich fantastisch war.

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Was uns bei dem gemeinsamen Essen jedoch wirklich irritierte, ja sogar innerlich an unsere Verzweiflungsgrenze brachte, war das Geschirr. Wir befanden uns in einem ganz normalen Haushalt und dies war ein gewöhnliches, alltägliches Mittagessen mit ein paar Gästen. Es war kein Kindergeburtstag und auch keine Gartenparty. Trotzdem wurde der Tisch komplett mit Plastikgeschirr eingedeckt. Es gab Plastikbecher, Plastikteller und sogar Plastikbesteck. Doch damit war es noch nicht genug. Nach der Vorspeisenplatte wurden uns unsere Teller entwendet und durch frische Plastikteller ersetzt. Nach dem Nudelgang geschah noch einmal das gleiche. Heiko und ich wollten es auf jeden Fall vermeiden und versuchten die alten Teller so schnell es ging mit neuen Speisen zu beladen, damit wir sie behalten konnten. Doch kaum waren sie leer, verschwanden sie auch schon und ehe wir etwas unternehmen konnten, standen die neuen sauberen Plastikteller vor uns. Wir waren an diesem Mittag sieben Personen und jeder einzelne von uns verbrauchte drei Plastikteller und zwei Plastikbecher. Denn es hätte ja sein können, dass ein Becher ein Loch hatte und so wurden grundsätzlich zwei übereinander gestülpt. Damit haben wir innerhalb einer einzigen Stunde einen kompletten Müllbeutel mit Plastik gefüllt, der vollkommen unnötig gewesen wäre. Es waren 21 Teller und 14 Becher. Wie gesagt, wenn dies eine Ausnahme gewesen wäre, weil es sich gerade um eine Party oder ein anderes ungewöhnliches Ereignis handelte, dann hätte man das noch irgendwo nachvollziehen können. Doch es war der Normalzustand. Das bedeutet, dass allein in diesem einen Haushalt pro Mahlzeit 12 bis 15 Plastikgarnituren weggeworfen werden, je nachdem ob der Pfarrer mitaß oder nicht. Gehen wir nun davon aus, dass jedes Familienmitglied zum Frühstück und zum Abendessen nur einen einzigen weiteren Teller benötigt, dann sind wir trotzdem bereits bei 20 Tellern und 24 Bechern pro Tag, also insgesamt 308 Plastikgeschirrteilen in der Woche. Man könnte nun vielleicht auf die Familie schimpfen und ihnen ein unverantwortliches Verhalten vorwerfen, doch sie machten nichts anderes, als die meisten italienischen Haushalte. Bereits bei unserem ersten Besuch hatten wir immer wieder von Plastikgeschirr gegessen und auch dieses Mal war Antonios Familie nicht die erste, die es so hielt. Sogar in den Klöstern bekamen wir unser Essen fast immer auf Wegwerftellern und jedes Mal wenn wir irgendwo nach Wasser fragten, bekamen wir ein Dutzend Plastikbecher dazu angeboten. Wenn wir nicht mehrfach beteuerten, dass wir bereits genug davon besaßen, dann wurden sie einem regelrecht aufgedrängt. Die Aussage, dass man sie nicht brauchte, reichte jedenfalls nicht aus, um sich der Becherflut zu erwehren.

Bei unserem ersten Italienaufenthalt hatten wir uns ja fast immer selbst versorgt. Dieses Mal nahmen wir jedoch häufiger auch die Einladungen von Pfarrern oder Frauen aus der Gemeinde an, uns ein vorgekochtes Essen vorbeizubringen. Immer wenn wir das Taten, konnten wir allein mit dem, was wir dann bekamen einen kompletten Mülleimer füllen. Die verwertbaren Dinge, die man uns brachte, füllten meist nicht einmal die Hälfte des Volumens der mitgebrachten Tüten aus. In Albanien, im Kosovo und in Mazedonien hatten wir Unmengen an Müll gesehen, der einfach so in der Gegend verteilt wurde. Es gab dort inoffizielle Müllhalden neben den Flüssen und Straßen, auf denen vom überfahrenen Hund bis hin zum Kleinwagen und ganzen Wohnungseinrichtungen alles verrottete. Es waren Länder, in denen der Müll nicht versteckt, sondern offen zur Schau gestellt wurde. Für einen Durchreisenden war das erschreckend und es wirkte auf uns oft so, als seien die südlichen Balkanländer die verschmutztesten und mülllastigsten, die es überhaupt auf der Erde gab. Doch der Eindruck trübte. Der Müll der in diesen Ländern produziert wurde, war zwar offen sichtbar, doch er war nur ein Bruchteil von dem, was hier in Italien entstand. Wir hatten sogar den Eindruck, dass die Menschen hier die Müllproduktion geradezu liebten. Wann immer es die Möglichkeit gab, etwas so zu verpacken, herzustellen oder zuzubereiten, dass dabei besonders viel Müll anfiel, wurde es genutzt. Selbst Haushalte, die eigentlich normales Geschirr und Besteck verwendeten, fanden immer wieder einzelne Bereiche, in denen sie dann doch noch unnötigen Müll produzieren konnten. So wurde beispielsweise der berühmte italienische Espresso besonders gerne aus Miniplastikbechern getrunken, was für uns gleich dreifach unverständlich war. Zum einen war es wirklich kein Problem, so eine winzige Tasse mit einem einzigen Schluck Wasser auszuspülen, so dass man durch die Plastikvariante so gut wie keine Arbeit einsparte. Zum zweiten war ein Espresso ja eigentlich ein Genussgetränk. Man trank ihn nicht, weil man unbedingt Flüssigkeit im Körper haben musste, sondern weil man den kleinen Energiekick genießen wollte, den einem das bittere, schwarze Getränk bescherte. Sollte man diese Spezialität nicht eigentlich auch mit einer richtigen Tasse würdigen? Man kaufte sich ja schließlich auch keinen teuren Weißwein um ihn dann zu seinem edlen Fisch aus einem Plastikbecher zu trinken. Ok, hier machte man das vielleicht schon, aber normalerweise sollte allein der Gedanke daran jedem Genussmenschen die Zehennägel hochklappen lassen. Und zum dritten waren Plastikbecher voller schädlicher Weichmacher, die sich vor allem bei Hitze auslösten. Es gab also nichts Dümmeres und Schädlicheres für den eigenen Körper, als seinen heißen Kaffee in einen Plastikbecher zu gießen.

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Den Nachmittag verbrachten wir dann alleine in unserem Zimmer und kümmerten uns wieder um den Aufbau von unserem Weltreiseblog. Gegen 19:00 Uhr fragte uns der Pfarrer, ob wir gemeinsam mit ihm zu Abend essen wollten. Dieses Mal aßen wir sogar von gewöhnlichen Tellern. Unser Gastgeber erzählte uns dabei eine Sache, die wir zum ersten Mal hörten, der wir aber noch einmal genauer auf den Grund gehen wollten. Mit Fatimá und Medjugorje hatten wir ja bereits zwei der berühmten Marienerscheinungsorte besucht, von denen es in Europa noch ein gutes Dutzend weiterer gab, die nicht alle so bekannt waren. Was wir bislang jedoch nicht wussten war, dass all diese Orte, wenn man sie auf der Karte miteinander Verband ein großes „M“ Formten. Den Anfangsbuchstaben des Namens „Maria“. Bei Gelegenheit müssen wir unbedingt einmal herausfinden, ob das stimmt.

Spruch des Tages: Wenn etwas keinen unnötigen Müll produziert, dann macht es auch nicht glücklich!

Höhenmeter: 540 m

Tagesetappe: 23 km

Gesamtstrecke: 13.339,27 km

Wetter: kalt aber sonnig und es liegt noch immer alles voll von Schnee!

Etappenziel: Frühstückspension, 87026 Mormanno, Italien

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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