Tag 1251: Welche Essstörungen gibt es?

von Heiko Gärtner
04.10.2017 01:20 Uhr

10.06.2017

Auch heute wurde es weder flacher noch trockener. Die ersten zwei oder drei Kilometer ging es zwar bergab, dann aber kam die nächste Steigung. Bevor wir uns ihr stellten beschlossen wir jedoch, noch einmal eine kleine Frühstückspause unter einer Bushaltestelle einzulegen. Da wir wussten, dass ein anstrengender Anstieg auf uns wartete, war es diesmal besonders wichtig, maßvoll zu essen, also genau darauf zu achten, sich nicht zu überfuttern, um anschließend noch richtig laufen zu können. Doch besonders nach den letzten Tagen fiel uns diese Aufgabe schwer. Unwillkürlich mussten wir an die Zeit mit Paulina zurückdenken, in der das Thema Essstörung immer wieder auftauchte. Wir hatten uns seither nicht mehr damit beschäftigt, weil andere Themen präsenter waren, doch es ließ sich nicht leugnen, dass es auch für uns und vor allem für mich ein durchaus präsentes Thema war.

 

Paulina hatte damals immer wieder einen Kampf mit sich selbst ausfechten müssen, um nicht über jedes Maß hinaus alles in sich hinein zu schlichten. Sie verstand zwar, dass sie sich zügeln musste und sie tat es auch, aber sie musste sich wirklich dazu zwingen. Bei ihr hatten wir damals erkannt, dass dieses Thema weit größer war, als wir zuvor geglaubt hatten und auch wir selbst waren noch lange nicht damit durch.

Die verschiedenen Arten von Essstörung

„Ich glaube“, hatte Heiko damals gesagt, „es ist erst einmal wichtig zu verstehen, dass es verschiedene Gesichter von Esssucht oder Essstörung gibt. Du hast selbst schon einige unterschiedliche davon kennengelernt und wir haben ja auch schon über einige gesprochen.

Die erste Form ist, dass Essen ein Glücksbote ist, also eine Ersatzbefriedigung für den Fall, dass es einem einmal nicht gut geht. Normalerweise ist essen ein Energiebringer. Man spürt, dass man Hunger hat und isst etwas, solange, bis das Hungergefühl verschwunden ist und man sich genährt und kraftvoll fühlt. Das ist die gesunde Stufe. Jetzt ist es allerdings so, dass wir viele Sucht- und Genussstoffe in unserem Essen haben und dass wir nicht in erster Linie aus Hunger sondern aus Appetit essen. Dadurch lassen wir uns gerne verleiten, noch etwas mehr zu essen, als eigentlich gut für uns wäre. Nach zwei Broten waren wir alle drei Satt. Das dritte haben wir nur noch aus Appetit gegessen. Jetzt kommt aber noch eine weitere Stufe hinzu und ab hier beginnt die eigentliche Esssucht. So lange du isst, spürst du deine Gefühle nicht mehr und fühlst dich deshalb wohl. Du isst also nicht nur aus Hunger und auch nicht nur aus Appetit, sondern als Ausgleich für eine harte oder unangenehme Zeit. Du belohnst dich mit dem Essen dafür, dass du etwas durchgestanden hast, oder weil du etwas gut gemacht hast. Essen ist also eine Ersatzbefriedigung, die den fehlenden inneren Frieden in deinem Leben ausgleicht. Oder ausgleichen soll, denn so richtig funktioniert das ja nicht.“

„Du meinst,“ warf ich ein, „das Gefühl der Befriedigung bleibt nur so lange, wie ich esse und hört direkt danach wieder auf, so dass ich das eigentlich immer etwas zwischen den Zähnen brauche, damit es funktioniert?“

Die zwei Arten von Gleichberechtigung

„So ungefähr, ja“, meinte Heiko und fuhr fort: „Manchmal kommt aber noch ein weiterer Punkt hinzu, und davon bist du auch nicht allzu weit entfernt. Du hast dieses Gefühl, dass du absolut gleich sein musst. Also genauso wie beispielsweise ich. Nicht gleichwertig, sondern wirklich gleich. Das bedeutet, dass du es dir von deinem inneren Gefühl her erst dann erlaubst, mit dem essen aufzuhören, wenn deine Mitmenschen aufhören, weil du sonst Angst hast, nicht genug zu bekommen. Aber du musst natürlich bedenken, dass bei weitem nicht alle gleich sind. Einige sind deutlich größer als andere, haben mehr Körpermasse und brauchen daher auch mehr Nahrung. Gleichwertig sein bedeutet, jeder bekommt das, was er benötigt, weil alle gleich viel Wert sind. Jeder leistet ja auch seinen Beitrag nach dem, was er eben kann und tun möchte und alles ist gleich viel Wert. Aber eben nicht gleich. Wenn ein Bär und eine Küchenfliege von einem Honigglas essen, dann teilen sie es sich ja auch so auf, das jeder davon satt wird. Das bedeutet aber nicht, dass die Fliege genauso viel bekommt wie der Bär. Oder ein anderes Beispiel: Wenn wir jetzt draußen Leben würden und ich würde den ganzen Tag jagen während ihr beispielsweise Wildkräuter sammelt und zubereitet, dann bräuchte ich am Abend mehr Nahrung, weil ich am Tag mehr verbraucht habe. Das bedeutet aber nicht, dass meine Arbeit mehr wert war oder dass es euch nicht vergönnt ist, euch satt zu essen.“

„Ok, das verstehe ich!“ sagte ich.

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Essen aus Mitleid mit der Nahrung

„Aber das ist immer noch nicht alles!“ fuhr Heiko fort. Ein weiterer Punkt ist das Thema mit dem Loslassen. So lange du zuhause warst, konntest du darauf achten, dass du immer nur so viel einkaufst, wie du auch essen wolltest. Hier haben wir jeden Tag mehr als genug. In dir ist aber das Programm, dass du Essen nicht wegwerfen kannst, weil du das Gefühl hast, dass es zu wenig von allem gibt und dann sofort die Angst auftaucht, dass du verhungern könntest. Außerdem tut es dir leid um das Essen. Immerhin hast du es ja gekocht und somit hast du viel Arbeit hinein investiert. So etwas kann man ja nicht wegwerfen. Also ist immer irgendwo der Drang da, dass alles aufgegessen werden muss, was wir haben, auch wenn du dich selbst damit schädigst. Du kannst einfach nicht loslassen, du kannst nichts weggeben.“

„Das stimmt!“ sagte ich, „das fällt mir wirklich schwer!“

„Ich denke,“ fuhr Heiko fort, „Das ist eine Sache, die du hier wirklich gut lernen kannst. In der Gesellschaft landet das Essen dann im Müll und das ist wirklich schade. Aber auch dabei musst du bedenken, das ohnehin mehr als 70% der Nahrung weggeworfen wird. Das kleine bisschen, das du dazu beiträgst macht da auch nicht mehr viel aus und es ist es definitiv nicht wert, sich dafür Krank zu machen. Hier ist es ja sogar noch leichter, denn das Essen was wir nicht verbrauchen landet ja nicht einmal im Müll. Es geht wieder zurück in die Natur, wo sich sofort die Fliegen und die Ameisen darüber freuen. Teilweise wahrscheinlich auch Mäuse und andere Tiere. Es wird ja gegessen. Dazu braucht es uns nicht.“

Das Gefühl für das richtige Maß finden

„Kommen wir also zum nächsten Punkt!“ fuhr Heiko fort.

„Es gibt noch einen Punkt?“ fragte ich entgeistert.

„Noch einige!“ meinte Heiko knapp und begann zu erklären: „Dieser hier ist vielleicht einer der wichtigsten. Du hast das Problem, dass du kein Maß finden kannst. Du spürst nicht, wann du satt bist und wann nicht. Du bist also maßlos. Das ist der Punkt, an dem du jetzt auch gerade stehst.

„Mh,“ machte ich und meinte dann: „Stimmt, ich könnte jetzt bestimmt noch drei Brote futtern. Wahrscheinlich sogar alle. Ich habe einfach nicht das Gefühl, dass ich satt bin.“

 

„Genau darum geht es“, bestätigte Heiko, „Hier kommt es vor allem auf die Selbstachtung und die Selbstwahrnehmung an, also auf das Maß in dem du auf dich selbst achtest. Wie sehr nimmst du wahr, was gut für dich ist und was nicht? Wie sehr hörst du auf deine Gefühle und deine innere Stimme? Wie sehr sorgst du für dich selbst? Und dazu gehört eben auch die Frage, wie sehr du wahrnimmst, bis zu welchem Maß dir etwas gut tut und ab wann es anfängt dir zu schaden.“

„Ok“, sagte ich, „das habe ich verstanden!“

Ess- und Brech-Sucht

Heiko fuhr fort: „Jetzt gibt es eine weitere Variante von Esssucht, die wir zum Glück nicht haben, aber die ich noch von vielen Patienten von früher her kenne. Hier ist es so, dass du selber merkst, dass dieses Überfressen deinem Körper nicht gut tut. Du fühlst dich schlecht, weil du zu viel gegessen hast und willst die überflüssige Nahrung wieder loswerden. Dein Körper sagt dann quasi zum Essen: ‚Geh dahin wo du herkommst!’ und du kotzt alles wieder aus. Das ganze nennt man dann Bulimie. Dass das krankhaft ist, ist sogar auch in unserer Gesellschaft so gut wie jedem klar und deshalb gibt es dazu auch eine Menge an Therapien. Nur haben diese in der Regel leider einen Haken. Sie behandeln zwar die Bulimie, aber nicht die Ursache. Das führt im besten Fall dazu, dass man das Kotzen aufgibt, aber deswegen ist man seine Fresssucht noch nicht los. Oft wird das Kotzen dann durch Sport ersetzt und man bekommt eine sogenannte Sportbulimie.“

„Aber Sport machen ist doch etwas gutes!“ wandte ich ein.

Mehr zum Thema Essstörung und wie man sie auflöst findet ihr im Artikel von Tag 1252.

Spruch des Tages: Essen kann so viel mehr sein, als nur Nahrung.

Höhenmeter:120 m

Tagesetappe: 15 km

Gesamtstrecke: 22.889,27 km

Wetter: bewölkt, leichter Wind

Etappenziel: Kirche, East Coweton, England

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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