Tag 1035: Was hilft bei Neurodermitis?

von Heiko Gärtner
05.11.2016 20:06 Uhr

17.10.2016

Seit wir den deutschsprachigen Raum betreten hatten, hatte sich ein grundlegender Aspekt unserer Reise vorläufig stark verändert. Es gab plötzlich Termine. In allen größeren Ortschaften trafen wir uns mit Reportern der Zeitungen oder mit Kamerateams der Regionalsender. Dies führte dazu, dass nun unser Telefon wieder deutlich häufiger für den Zweck verwendet wurde, zu dem man es eigentlich entwickelt hatte. Heute morgen klingelte er gerade in dem Moment, in dem ich auf dem Klo saß. Am Apparat war ein junger Herr vom Regensburger Regionalfernsehen, der einen Termin mit uns ausmachen wollte. Schon lustig, wo und wie wir inzwischen unsere Medienpräsenz organisieren.

Das Hotel Café Rathaus verabschiedete uns mit einem reichhaltigen Frühstücksbuffet, inklusive Lachsbrötchen. Dann brachen wir auf, um die Donau zu überqueren und ihr nun für längere Zeit den Rücken zu kehren. Seit Wien waren wir ihr und dem Donauradweg nun gefolgt. Nun bogen wir in Richtung Norden ab, wo sich in rund 100km Entfernung Heikos Heimatstadt befand. Die Wanderwege, die wir heute wählten, gehörten ganz eindeutig zu den schönsten der ganzen Reise. Die Oberpfalz war einfach ein absolut geniales Wandergebiet mit tollen, ausgedehnten Wäldern guten Wegen und allem, was man sich für eine gelungene Wanderung vorstellt. Es waren Wege wie diese hier gewesen, die uns vor drei Jahren überhaupt darauf gebracht hatten, dass eine Weltumwanderung eine gute Idee sein könnte. Niemals hätten wir geglaubt, dass es davon tatsächlich nur noch so wenige gibt.

Das Treffen mit unserem Kamerateam lief wie am Schnürchen. Als wir den kleinen Ort erreichten, in dem wir uns verabredet hatten, warteten sie bereits an der Kreuzung. Sie begleiteten uns ein Stück auf unserem Weg, stellten einige Fragen und verabschiedeten sich dann wieder. Wenn alle Medienkontakte so unkomplex wären, könnte man sich glatt daran gewöhnen.

Auf unserem Weg nach Painten fiel uns auf, dass wir uns zumindest was die Vereinstrukturen in Deutschland anbelangte, nicht geirrt hatten. Hier gab es tatsächlich in jedem Dorf mindestens einen Sport- und einen Feuerwehrverein, egal wie klein der Ort auch war. Viele dieser Vereine mochten reine Spaßgesellschaften sein, deren Hauptziel es war, möglichst viele Gründe zum Alkoholtrinken zu organisieren und man konnte sich sicher darüber streiten, ob dies nun sinnvoll war oder nicht. Was aber auffällig war ist, dass diese Vereinskultur dafür sorgte, dass die Dörfer lebendig blieben. Es war ein Grundpfeiler, der die Menschen zusammenhielt und der sie motivierte, mehr zu tun, als nur in ihren Häusern zu hocken. Dies war etwas, das vielen Menschen in vielen anderen Ländern definitiv fehlte.

Painten war eine reine Baustelle und im ersten Moment waren wir uns fast sicher, dass wir einfach weitergehen würden, um uns einen ruhigeren, entspannteren Ort zu suchen. Die Karte, die wir von Benjamin bekommen hatten zeigte jedoch an, dass es in der näheren Umgebung keinen solchen Ort gab. Daher machten wir uns doch auf die Suche nach dem Pfarrhaus. Auf unser Läuten hin öffnete der Pfarrer passender weise im Handwerkerdress, da er gerade dabei war, sein Haus zu streichen. Wir bekamen zunächst ein Mittagessen im Pfarrbüro und später einen Schlafplatz im Gemeindesaal. Bevor wir es uns häuslich einrichteten, führten wir jedoch ein längeres Gespräch mit der Mutter des Pfarrers, die gerade zu Besuch war und unter akuter Neurodermitis litt. Ihre Arme waren so rot und geschwollen, dass es aussah, als hätte sie Verbrennungen. Die rauhe, brennende und juckende Haut erinnerte mich ein bisschen an meine eigene nach der Brennnesseltherapie, nur das dieses natürlich weitaus heftiger und intensiver war, als bei mir. Wenn ich daran zurück dachte, wie sehr mich die drei Tage nach den Behandlungen immer kirre gemacht hatten, war er für mich kaum vorstellbar, wie es sein musste, dieses Gefühl noch einmal zehn Stufen härter und über Wochen hinweg zu spüren. Vor allem, wenn einem die Ärzte dann auch noch einreden wollten, dass dies nun wahrscheindlich für immer bleiben würde. Die Ärzte selber konnten ihr dabei nicht wirklich helfen, denn die einzige Antwort die sie kannten lautete "Cortison" und selbst ihnen war bewusst, dass dies in diesem Fall eine Schnappsidee war. Ein Medikament, zu dessen harmloseren Nebenwirkungen der Tod zählte ist einfach nicht dafür geeignet, es sich großflächig und über langen Zeitraum auf den ganzen Körper zu schmieren. Dementsprechend froh war die ältere Dame, dass sie nun mit uns über Alternativbehandlungen sprechen konnte, vor allem, da sich Heiko erst vor kurzem intensiv mit dem Thema Neurodermitis auseinandergesetzt hatte.

Am Abend wartete dann noch eine ganz besondere Überraschung auf mich. Der Postkasten meines e-Mail-Accounts war angefüllt mit Mails von Mitgliedern aus meinem früheren Freundeskreis. Es war nun genau eineinhalb Monate her, seit ich meinen Entschluss, Tobias Krüger sterben zu lassen und als Franz von Bujor ohne Kontakt zu früheren Freunden und Familienmitgliedern zu leben. Damals hatte ich damit gerechnet, dass ich auf diese Mail und die dazugehörigen Berichte eine Reaktion bekommen würde. Nicht unbedingt eine positive oder verständnisvolle, aber zumindest irgendeine. In unserer Gesellschaft ist es ja durchaus üblich, dass man eine Verabschiedung mit einer Gegenverabschiedung erwiedert. Wenn einer "Tschüss" oder "Lebewohl" sagt, heißt dies meist nicht, dass der andere daraufhin wortlos verschwindet, sondern dass er den Gruß erwiedert, bevor sich die Wege trennen. Irgendetwas in der Richtung hatte ich auch auf meine Abschiedsmail hin erwartet, doch nichts dergleichen war gekommen. Schließlich hatte ich mich dann damit abgefunden, dass es keine Reaktion geben würde und hatte eingesehen, dass meine Erwartungshaltung in dieser Richtung nicht gerade hilfreich war. Ich war enttäuscht darüber, dass ich all jenen Menschen, von denen ich lange Zeit geglaubt hatte, dass es meine Freunde waren, nicht einmal eine kurze Abschiedsmail wert war. Doch wie immer in solchen Fällen vergrub ich dieses Gefühl und machte mir vor, dass alles in Ordnung war. Die Nichtreaktion zeigte ja nur, dass ich mich richtig entschieden hatte und dass der Kontakt nicht erst mit meinem Entschluss beendet wurde, sondern bereits lange davor schleichend geendet hatte. Ich hatte ihre Welt verlassen und war damit ohnehin nicht mehr existent, das konnte man ja eigentlich keinem übel nehmen. So sah das jedenfalls mein Verstand. Gefühle hingegen funtionieren nicht so einfach und logisch. Sie sind da wenn sie da sind und wirken auch dann, wenn man sie unterdrückt. Und von diesen Gefühlen her hätte meine Enttäuschung eigentlich nicht größer sein können. Jedenfalls dachte ich dies, bis ich nun meinen Posteingang sah. Nach eineinhalb Monaten vollkommenen Schweigens hatte ich nun gleich von sieben Leuten auf einen Schlag eine Antwort erhalten. Mein Herz raste, als ich sie öffnete und ich wusste zunächst nicht, was ich davon halten sollte. In gewisser Hinsicht waren die Nachrichten einander sehr ähnlich, in anderer hätten sie unterschiedlicher nicht sein können. Sie reichten von einem kurzen Achtzeiler bis hin zu einer Abhandlung mit mehr als 50 Seiten. Doch die Botschaft war immer mehr oder weniger die selbe. Es war eine Aufforderung, meinen Weg abzubrechen und wieder in die alten gewohnten Bahnen zurückzukehren, am besten gleich ganz nach hause zu kommen, mich für alles zu entschuldigen, was ich in der letzten Zeit falsch gemacht hatte und wieder zu der freundlichen, gut funktionierenden Marionette zu werden, die ich früher war. Einige Male bekam ich eine Auflistung mit schönen Erinnerungen an meine Kindheit oder meine Jugend, dann wiederum Erzählungen darüber, was aktuell im Leben der anderen los war. Immer jedoch steckte ein Vorwurf darin, dass ich mich für den Weg entschieden hatte, den ich nun ging. Vor allem Heiko wurde besonders stark angegriffen und immer wieder als Sektenführer und Guru bezeichnet, der mich manipulierte und in eine Richtung trieb, in die ich selbst gar nicht gehen wollte. Fast jeder unterstellte mir dabei, dass ich unfähig war, eigene Entscheiungen zu treffen und den Weg zu gehen, den ich gehen wollte. Irgendwo war dies natürlich verständlich, da ich ja schon immer als Marionette gelebt hatte und stets anderen hinterhergelaufen war. Warum sollte es dieses Mal anders sein? Warum sollten sie dies nun glauben können? Vor allem, wo dieser Weg nun so abstrakt war und so viele Aspekte beinhaltete, die gegen alles verstießen, was in unserer Gesellschaft als normal und erstrebenswert angesehen wird. Das sich Freunde sorgen machten, wenn man sich für einen solchen Weg entschied, war gut nachvollziehbar. Aber waren es wirklich Sorgen? Ging es hier wirklich darum, dass sie mich vor einer falschen Entscheidung beschützen wollten, weil ich ihnen am Herzen lag?

Als ich die Mails las, kam in mir kein Gefühl der Verbundenheit auf, sondern vor allem Empörung, Wut, Ärger, Groll und Enttäuschung. Warum? Weil ich jedes einzelne Wort, das ich hier geschrieben bekam, als gehäuchelt und falsch empfand. Es waren keine Mails, die aus einem spontanen, inneren Impuls heraus geschrieben wurden, weil er Verfasser unbedingt etwas loswerden wollte, was ihm auf der Seele brannte. Es waren Mails, die geschrieben wurden, weil man dazu aufgefordert wurde und sich dazu verpflichtet fühlte. Von den meisten hatte ich seit meiner Abreise vor knapp drei Jahren kein einziges Wort gehört. Kein einziges Mal war ich gefragt worden, wie es mir ging, was mich beschäftigte und wohin mich mein Weg gerade trieb. Nicht als ich vor zweieinhalb Jahren mit meiner Familie brach, nicht als wir in Italien überfallen wurden, nicht als wir einen neuen Buchauftrag bekamen. Kein einziger hatte in dieser Zeit jemals das Gefühl gehabt, mir mitteilen zu wollen, was ihn gerade beschäftigte, was bei ihm im Leben los war, wohin sein Weg ihn führte und wie es ihm ging. Wenn wir einen Kontakt hatten, dann war dieser stets so oberflächlich, dass man am Ende trotzdem nichts über den anderen wusste. Und nun war es plötzlich allen auf einmal wichtig, dass es mir gut ging? Jetzt mit einem Mal war es plötzlich wieder wichtig, dass ich an ihrem Leben teilnahm? Die Mailflut war, wie ich sogar ganz offen und ehrlich mitgeteilt bekam, das Ergebnis einer Art Krisensitzung, bei der sich alle verabredet hatten, mir gleichzeitig eine Mail zu schreiben. Ich bin davon überzeugt, dass jeder dabei das Gefühl hatte, aus einer guten Absicht heraus zu handeln aber für mich fühlte es sich nicht wie ein Freundschaftsbeweis, sondern wie ein Shit-Storm an, der nur dazu diente, mir zu sagen, dass ich falsch bin und gefälligst wieder zurück in das alte System kommen sollte. Am meisten traf mich dabei, dass mir keine einzige Frage gestellt wurde. Niemand wollte etwas verstehen oder nachvollziehen können. Niemand hatte ein Interesse an mir als Person. Es gab nichts als eine vorgefertigte Meinung, die vor allem deshalb besonders wahr wirken sollte, weil sie von so vielen Seiten gleichzeitig kam. Doch das machte die Wut und die Enttäuschung in mir nur noch größer. Immer wieder bekam ich den Vorwurf, nun Teil einer Sekte zu sein, die dafür sorgte, dass ich nicht mehr klar denken konnte. Immer wieder warf man mir vor, dass ich mich auf einer Abwärtsspirale befand, bei der es mir immer schlechter und schlechter ging. Keiner aber fragte mich nach meinen Gefühlen dazu. Keiner fragte, ob ich mich für diesen Weg bewusst entschieden hatte, oder ob es sich nach Manipulation anfühlte. Stattdessen wurden Schuldgefühle gestreut und Zweifel gesäht, also genau die Mechanismen, mit denen man am besten Manipulieren kann. Dieses organisierte und verabredete Schreiben erinnerte mich tatsächlich an Methoden, die einige Sekten anwandten, wenn ein Mitglied ihre Organisation verlassen wollte. Von einem ehemaligen Mitglied der Scientologen wusste ich, dass er eine ähnliche Reaktion von seinen früheren Freunden und Verwandten bekommen hatte, nachdem er ausgetreten war. Unterschwällig bekam ich sogar die Drohung, dass man sich über rechliche und psychologische Schritte informiert habe, um zu prüfen, ob ich nicht doch irgendwie aufzuhalten und zurück auf die "rechte Bahn" zu schieben war. Ging es also wirklich um die Angst, dass ich mich manipulieren ließ? Oder ging es viel mehr um die Angst, dass mich jemand anderes manipulierte, der nicht zu meiner Familie und meinem Freundeskreis gehörte? Denn ganz offensichtlich waren Manipulationen ja vollkommen in Ordnung, so lange sie von einem selbst ausgingen und nicht von jemand anderem. Und wieder einmal kam in mir das starke Gefühl auf, dass der ausschlaggebende Faktor hinter der ganzen Aktion letztlich wieder meine Mutter war. Ich habe keine Ahnung wie sie es gemacht hat, aber auffällig ist, dass unter allen Freunden, die mir schrieben, kein einziger war, der nicht ihre Meinung vertrat, der sie nicht in Schutz nahm und der mir kein schlechtes Gewissen machen wollte, weil ich ihr gegenüber so verletzend gewesen war. Und wieder waren wir beim Thema Manipulation, in dem sie eine wahre Meisterin war. Oftmals hatte ich mich selbst fertig gemacht, weil ich es für so lange Zeit nicht bemerkt hatte, wie sehr sie an meinen Fäden zog. Jetzt musste ich mir jedoch eingestehen, dass sie wirklich gut war und dass sie jeden anderen ebenso nach ihrer Pfeife tanzen lassen konnte, wenn sie es wollte.

 

Je mehr Mails ich las, desto stärker wurden die Wut und die Enttäuschung in mir. Doch zum ersten Mal fühlte es sich gut an, diese Wut zu spüren. In der ganzen Zeit des Schweigens waren diese Gefühle unterschwällig in mir gewesen, wie auch die Ablehnung meiner Freunde mir gegenüber immer unterschwellig im Raum gestanden hatte. Nun war beides an die Oberfläche getreten, war sichtbar und fühlbar geworden und dafür war ich sehr dankbar. Bislang hatte ich immer einen Zweifel in mir gespürt, ob ich den Menschen meines früheren Lebens mit dem Kontaktabbruch nicht doch unrecht getant hatte. Jetzt spürte ich zum ersten Mal, dass ich mich wirklich richtig entschieden hatte. Jetzt konnte ich die Wut und die Enttäuschung, später auch die Trauer zulassen und annehmen. Und jetzt konnte ich die alten Verbindungen und Beziehungen wirklich loslassen. Ich fühlte mich ein bisschen wie ein Ex-Junkie, der gerade auf dem Weg in die Abstinenz war. All seine früheren Freunde und bekannten waren eng mit seiner Sucht verknüpft und wenn er diese Sucht loslassen wollte, dann musste er sich auch aus dem alten Umfeld lösen. Die Droge, von der ich loskommen wollte war in meinem Fall jedoch kein Heroin und auch kein Alkohol, sondern Harmoniesucht, Gefühlskälte und Unauthetizität. Dass mir keiner meiner früheren Freunde ein Gefühl schreiben konnte war vollkommen logisch, denn sie konnten mir ja nur das Spiegeln, was ich ihnen vorgezeigt hatte. Wie hätte ich jemals eine gefühlvolle Beziehung aufbauen sollen, wenn ich selbst keine Gefühle hatte? Wie sollte jemals Ehrlichkeit zu mir kommen, wenn ich selbst nie ehrlich war? Jahrelang hatte ich meine Gefühle und auch meine Einstellungen immer hinterm Berg gehalten, hatte mich hinter einer freundlichen aber leeren und unpersönlichen Maske versteckt und wunderte mich nun, dass ich keine echten, tiefen Beziehungen hatte, die mich verstanden und die zu mir hielten. Erst als ich selbst ehrlich wurde, konnte ich auch Ehrlichkeit zurückbekommen. Und die ehrliche Wahrheit war, dass keiner von früher meinen Weg nachvollziehen, verstehen, annehmen oder gar gutheißen konnte.

Es dauerte jedoch noch einige Tage, bis ich das System dahinter wirklich verstand. Denn die Frage war für mich, warum alle zuhause so viel Zeit und Aufwand investierten, um mich davon abzuhalten, das zu machen, was ich machen wollte. Wieso organisierte man einen Mail-Storm und schrieb bis zu 50 Seiten, wenn kein Gefühl im Spiel war und es niemandem um mein Wohl oder um mich als Person ging?

Es war eine ähnliche Reaktion, wie man sie auch oft von Menschen kennt, die von ihren Partnern verlassen werden, um die sie sich lange Zeit nicht gekümmert haben. So lange die Beziehung lief, gab es kein echtes Interesse am anderen. Er war eben einfach Normalität und warum sollte man sich um etwas Gedanken machen, das eh immer da war? Es ist wie in dem Bilderwitz von Ulli Sein, bei dem ein Mann mit seiner Frau an einem Blumenstand vorbei geht und dem Verkäufer auf den angebotenen Blumenstrauß hin sagt: "Nein Danke! Wir sind schon verheiratet!" Trennt sich der Partner jedoch, wird einem plötzlich bewusst, dass man dabei ist, einen Teil seines Lebens zu verlieren, an den man sich bereits sehr stark gewöhnt hat. Wir glauben in der Regel, dass man nun erst merkt, wie sehr man den Partner geliebt hat, doch das ist ein Irrtum. Es geht dabei nicht um Liebe, denn diese wäre auch zuvor schon spürbar gewesen. Es geht viel mehr um Verlustangst. Unsere Beziehungen, seien es nun Freundschaften oder Partnerschaften, sind in erster Linie Handelsbeziehungen. Das Leben in unserer Gesellschaft ist ein permanentes Tauschgeschäft. Alles kostet etwas und alles ist Verkauf. Solange wir aus einer Beziehung einen Nutzen ziehen, den wir als größer empfinden als das, was wir dafür bezahlen, halten wir sie am Laufen. Wird sie uns zu teuer, brechen wir sie ab. Wenn nun ein Partner sich trennt, dann ruft dies im anderen automatisch eine Kosten-Nutzen-Bilanz auf und er stellt fest, was ihm die Beziehung alles gebracht hat. Dadurch entsteht dann auch oft eine Verlustangst. Nicht weil dieder eine speziefische Mensch geht, zu dem man so eine tiefe Seelenverbindung hatte. Nein, man hat Angst davor, den Status Quo zu verlieren. "So einen Partner finde ich bestimmt nie wieder! Der hatte einen so gut bezahlten Job!" oder "Sie konnte so gut kochen!" oder "Sie hatte so einen perfekten Hintern, das gibt es bestimmt kein zweites Mal!" Wir haben Angst vor einer Lebensqualitätseinbuße durch den Verlust des anderen, weil wir nicht glauben können, dass die Zukunft etwas Neues für uns parat hält, das genauso gut oder gar besser ist. Je nachdem, wie stark diese Angst ist und als wie groß wir unseren Verlust empfinden, wählen wir nun auch unser Verhalten. Wieder geht es dabei nicht um die andere Person, sondern um eine Kosten-Nutzen-Rechnung. Wenn wir der Meinung sind, dass der Aufwand, das alte zurückzuerobern geringer ist, als uns etwas neues, ebenbürtiges zu suchen, dann klammern wir uns an das alte. Haben wir das Gefühl, dass sich der Aufwand nicht lohnt und dass wir schneller etwas neues, vielleicht sogar besseres finden, dann fällt uns die Trennung hingegen leicht.

Fast auf den Tag genau vor einem Jahr stand ich vor der gleichen Entscheidung, wenngleich auch auf einer ganz anderen Ebene. Damals habe ich durch eine dumme Unachtsamkeit einen Text auf meinem Computer gelöscht, an dem ich bereits sehr lange geschrieben hatte und der mich viel Zeit und Mühe gekostet hatte. Als ich den Fehler erkannte, wurde mir klar, dass ich nun zwei Möglichkeiten hatte. Ich konnte sofort damit beginnen, den Text neu zu schreiben, oder ich konnte versuchen, den alten irgendwie zurückzugewinnen. Erst war ich der Ansicht, dass es weniger Aufwand war, den Text wieder zurückzuholen und so investierte ich eine komplette Nacht in den Versuch, die gelöschte Datei irgendwie wieder herzustellen. Erst als mir klar wurde, das diese Arbeit vergeblich war, war ich bereit loszulassen und mich dafür zu öffnen, dass ich noch einmal einen neuen Text verfassen musste.

Ich weiß, das ist ein banales Beispiel, aber letztlich ist es mit Beziehungen nichts anderes. Ich war viele Jahre lang ein gut funktionierender Teil eines Freundeskreises gewesen. Ich war immer derjenige, der sich sebst zurücknahm, der versuchte, die Harmonie in der Gruppe aufrecht zu erhalten, der lustige Geschichten erzählte, Energie, Zeit und Aufmerksamkeit verschenkte und mit dem man sich gut von seinen Ängsten, Sorgen und Problemen hatte ablenken können. Ich war wie ein gut funktionierender Mitarbeiter in einer Firma, der über Jahre hinweg eine wertvolle Arbeitskraft dargestellt hatte. Der Mensch selbst ist der Firma egal, es spielt keine Rolle, was er fühlt, wie es ihm Geht oder was für Träume und Ziele er hat. Wichtig ist, dass er der Firma einen Vorteil bringt. Wenn ein solcher Arbeiter nun von einer anderen Firma abgeworben wird, löst dies natürlich einiges an Ärger in der Chefetage aus. Vielleicht geht es dem Arbeiter in der neuen Firma besser, vielleicht auch nicht. Vielleicht kann er dort seine Träume und Lebensziele verwirklichen, vielleicht bekommt er auch nur mehr Gehalt, hat einen schöneren Schreibtisch oder entspanntere Arbeitszeiten. All dies spielt für die erste Firma jedoch keine Rolle, da es ihr ja nicht um den Menschen, sondern um die Arbeitskraft geht. Eine Rolle spielen diese Faktoren nur dann, wenn sie benutzt werden können, um den Arbeiter wieder zurück zu holen.

Die neue Firma ist in meinem Fall Heiko, der nun in den Augen meines früheren Freundeskreises der neue Nutznießer meiner Arbeitskraft ist. Dies ist auch der Grund dafür, dass ich immer wieder sorgenvolle Komentare darüber bekomme, wie sehr ich mich doch von ihm ausnutzen ließe. Auch hier gibt es wieder keine Frage dazu.

"Fühlst du dich ausgenutzt? Es wirkt oft sehr ungleich, wie ihr eure Arbeiten aufteilt. Mich würde interessieren wie du das siehst und wie es dir damit geht!"

aufbau eines pilzes

Die Beobachtung ist ja nicht verkehrt. Unsere Aufgabenverteilung ist definitiv ungleich verteilt und das auch ganz bewusst. Sie ist jedoch alles andere als ungerecht verteilt. Es ist ein weitverbreiteter Irrtum, dass Gerechtigkeit daraus besteht, dass immer alles "gleich" sein muss. "Alle Menschen sind gleich!" Wirklich? Nein, ganz sicher nicht. Alle Menschen sind grundsätzlich unterschiedlich und jeder hat seine eigenen Stärken und Schwächen. Alle Menschen sind gleichberechtigt und das ist ein gewaltiger Unterschied. Heiko und ich haben vollkommen unterschiedliche Stärken und Schwächen und aus diesem Grund übernhemen wir auch vollkommen unterschiedliche Aufgaben. Heiko kann innerhalb von wenigen Sekunden große Mengen an Gemüse schnippeln, wofür ich eine Stunde brauchen würde. Dafür hat er nicht die Ruhe und Geduld, auf ein köchelndes Gericht aufzupassen, so dass es bei ihm gerne einmal anbrennt. Daher ist er für das Schneiden und ich für das Kochen zuständig. Wenn er sich in ein Thema einarbeitet, schreibt er teilweise zwanzig oder dreißig Seiten in einer Stunde. Ich brauche für den gleichen Text das zehnfache der Zeit. Es kann also passieren, dass ich an einem Tag noch viele Stunden schreibe, während Heiko längst Feierabend macht. Das gleiche Thema hatte ich aber auch schon in der Schule. Dort aber hat niemand gesagt, dass es ungerecht ist, wenn meine Mitschüler nur eine Stunde Hausaufgaben machen mussten und ich drei. Jeder braucht so lange wie er eben braucht. Auch dies ist das Leben. Geht es also wirklich um die Sorge, dass ich mich ausnutzen lasse, oder geht es nicht viel mehr darum, dass ich meine Arbeitskraft in etwas investiere, das nun jemand anderem hilft als einem selbst?

 

Das Problem dabei ist - und das spiegelt mir mein alter Freundeskreis sehr gut - dass wir nicht wissen, dass alles eins ist. Wir haben das Gefühl, dass wir von anderen Getrennt sind und dass jeder Verlust unser Leben ärmer macht. Die Angst davor, Menschen zu verlieren ist auch eine meiner größten Ängste und die Ursache dafür, warum es mir so schwer fällt, meine Gefühle zu äußern und wirklich zu mir zu stehen. Ich habe Angst, dass mich jeder verlässt, wenn er erkennt, wer ich wirklich bin und was in mir vorsich geht. Und diese Angst bekomme ich natürlich nun von allen Seiten gespiegelt. Erst wenn wir erkennen, dass es gar keinen zweiten gibt, der uns verlassen kann, weil wir alle zum gleichen Allbewusstsein gehören, können wir auch loslassen und brauchen keine Angst mehr vor einem Verlust zu haben.

Noch ein anderer Aspekt wurde mir durch den Mail-Storm bewusst. In den letzten Tagen hatte ich die Sanktionen immer mehr schleifen lassen weil ich Angst vor den Entwicklungsschritten hatte. Ich wollte nichts ins Fühlen kommen und die Wut und den Schmerz in Verbindung mit den Beziehungsthemen wahrnehmen. Nun bekam ich den Druck von außen, den ich brauchte, um inf Fühlen zu kommen. Dafür bin ich dankbar!

Spruch des Tages: For everything you learn, there is something you must let go off (The Frames)

Höhenmeter: 450 m

Tagesetappe: 25 km

Gesamtstrecke: 18.913,27 km

Wetter: kalt aber überwiegend sonnig, nachts Temperaturen von etwas unter 0°C.

Etappenziel: Ortsgemeindezentrum Heuberg, 86732 Oettingen in Bayern, Deutschland

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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