Die Geschichte von Bruder Klaus

von Heiko Gärtner
20.12.2016 05:35 Uhr
28.11.2016

Pünktlich um acht saßen wir bei Luisia am Frühstückstisch und eine halbe Stunde später holte uns ihre Tochter ab, um die knapp 10km zurück nach Flüeli Ranft zu fahren. Flüeli war tatsächlich ein winziger Ort oberhalb der Schlucht, der fast nur aus Kapellen und Gasthäusern bestand. Nahe des Parkplatzes gab es außerdem ein kleines Holzhaus, das früher einmal das Wohnhaus von Bruder Klaus gewesen war. Wer aber war dieser Klaus nun eigentlich, von dem hier alle sprachen?

   

Wie viele andere Männer und Frauen seines Schlages war er zunächst einmal ein Sonderling, den viele seiner Mitmenschen nicht einschätzen konnten und der durch seinen Lebenswandel gleichzeitig verehrt und verurteilt wurde. Schon als Kind hatte er immer wieder Visionen und in einer sah er sich selbst als einen großen, hohen Turm, der den Menschen Schutz, Geborgenheit und halt gibt. Es war nicht einfach nur ein Traum oder eine Erscheinung, sondern viel mehr ein klares Zeichen dafür, was seine Lebensmission und seine Aufgabe hier auf Erden war. Eine Aufgabe, die er sehr ernst nahm. Auch wenn er ein sehr frommer und gläubiger Mann war, schlug er doch für sehr lange Zeit keinen klassischen Glaubensweg ein. Er wurde als Soldat in den Krieg berufen, kehrte zurück, heiratete, bekam 10 Kinder und wurde ein angesehenes und geachtetes Mitglied seiner Gemeinde. In sofern unterschied er sich vielleicht zunächst gar nicht mal so sehr von seinen Mitmenschen, bis auf eine Sache. Er hatte von Anfang an eine sehr starke Herzens- und Gottverbindung, nach der er stets zu handeln versuchte. Was andere über ihn sagten oder dachten war ihm egal und er handelte immer so, wie er es mit seinem Herzen vereinbaren konnte. Dadurch war er auch in der Lage, zu erkennen, ob andere nach ihrem Herzen oder nach ihrem Ego handelten. Oft sah er es ihnen nicht nur an sondern bekam auch hier visionenartige Bilder. Obwohl er selbst weder lesen noch schreiben konnte wurde er durch diese Fähigkeit schließlich zum Richter. Er urteilte nicht nach Recht und Unrecht im Sinne des Gesetzes, sondern spürte und erkannte, wann ein Mensch tugendhaft handelte und wann nicht. Als er einmal gemeinsam mit einigen anderen Richtern über einem Prozess saß, kam es zu einer Art Komplott. Einige der anderen Gesetzesvertreter versuchten den Fall aufgrund von persönlichen Vorteilen zu beeinflussen und logen daher was das Zeug hielt. Sie logen sehr gut, so dass niemand merkte, was hier gespielt wurde, doch Bruder Klaus, der zu diesem Zeitpunkt noch kein Bruder war und einfach Niklaus hieß, sah plötzlich, wie den Männern rote Höllensflammen aus den Mündern quollen. Wie sich später herausstellte, hatte er mit seiner Vision recht.

Visionen begleiteten ihn sein ganzes Leben lang und zeigten ihm immer wieder auf, welchen Weg er gehen sollte. Schließlich aber stand er vor seiner wohl härtesten Entscheidung. Sein Herz oder die göttliche Stimme in ihm, sagte ihm, dass er aufbrechen und seinen Weg als Einsiedler gehen sollte. Dies war wohl die Entscheidung, die am stärksten auf Unverständnis in seinem Umfeld stieß. Er ließ seine Familie, seine Frau, seine Kinder und sein komplettes, altes Leben hinter sich und zog als Wander- und Bettelmönch hinaus in die Welt. Es dauerte jedoch nicht allzu lange, bis er spürte, dass auch dies noch immer nicht sein Weg war. Das Leben als Einsiedler war stimmig, aber die Fremde passte für ihn nicht. So kehrte er schließlich nach Flüeli zurück, jedoch nicht um dort bei seiner Familie zu leben. Es muss hart gewesen sein, direkt an seinem früheren Heim und an Frau und Kindern vorbeizugehen, doch er tat es und stieg tief in die Schlucht, den sogenannten „Ranft“ hinab. Auf diesem Weg folgten wir ihm nun gemeinsam mit unserer Führerin. Heute gab es hier einen schmalen asphaltierten Weg, den es zu Bruder Klaus Zeiten sicher noch nicht gegeben hat. Unten, direkt über dem kleinen aber wilden Bachlauf, der einst die Schlucht in das Land gerissen hatte, fanden wir eine kleine Kapelle mit einem winzigen Häuschen, sowie ein bescheidenes Kloster. Letzteres wurde von einigen Nonnen und einem Pfarrer bewohnt, die heute den Ranft betreuten. Als Niklaus hier herabstieg gab es nichts von alledem. Das winzige Häuschen, dass man sich heute anschauen kann, wurde von ihm errichtet, als ein bescheidenes Heim, in dem er den Rest seines Lebens verbrachte. Wie bescheiden es war, erkannten wir erst als wir uns im Inneren befanden. Es bestand aus zwei dunklen und erstaunlich niedrigen Räumchen mit kaum mehr als einer schmalen Holzbank darin. Die Bank diente Bruder Klaus als Bett und auch wenn sie so schmal war, dass man bereits im Sitzen Angst hatte, herunterzurutschen, stellte sie seinen ganzen Luxus dar. Die Kapelle, die direkt an das Haus angliederte und in die man durch ein kleines Fenster aus dem Schlafzimmer hineinblicken konnte, entstand auch erst lange Zeit später. Unsere Führerin erzählte uns, dass sie vor vielen Jahren hier in dieser Kapelle geheiratet hatte. Eigentlich wurden hier keine Hochzeiten durchgeführt, aber da sie einen ganz speziellen Bezug zu Bruder Klaus und auch zu diesem Ort hatte, war es ihr gelungen, den Pfarrer zu überzeugen, für sie eine Ausnahme zu machen. In ganz kleiner Runde waren sie dann gemeinsam den steilen Pfad zur Kapelle hinabgestiegen und hatten hier den Bund der Ehe geschlossen. Noch heute kam sie oft alleine oder mit ihrem Mann hier her um zu beten und um eine Kerze anzuzünden. Auch für uns steckte sie nun eine an. „Möge euch das Licht auf euren Wegen begleiten!“ sagte sie dazu. Etwas weiter hinten im Tal stand eine weitere, größere Kirche. Auch sie war in Gedenken an Bruder Klaus errichtet worden, doch sie war wesentlich größer und prunkvoller als die erste. „Diese hier wäre mir zum Heiraten viel zu kitschig gewesen!“ meinte sie mit einem Lächeln, als wir vor dem vergoldeten Altar standen.

Bruder Klaus selbst hatte die Einfachheit als Weg zu sich und zu Gott perfektioniert. Nicht nur sein Bett zeugte davon, auch seine Kleidung und seine Ernährung. Er trug nur noch eine Robe, Sommer wie Winter und ging stets barfuß. Eines Tages hatte er eine weitere Vision, in der er von einem Engel mit einem Speer durchstochen wurde. Schon als Kind hatte er viel und häufig gefastet doch diese Vision zeigte ihm noch einmal einen neuen Weg auf. Er begann nun überhaupt nichts mehr zu essen und sich ähnlich wie einige Yogi-Mönche rein von Lichtenergie zu ernähren. Zwanzig Jahre lang rührte er nun keinen Bissen Nahrung mehr an. Doch Bruder Klaus war weit mehr als ein Licht essender, barfüßiger Kauz, der allein in einer Schlucht lebte. Er war ein Fels in der Brandung für jeden, der Rat, Hilfe oder Schutz suchte. Von überall her kamen die Menschen, wenn sie nicht weiter wussten und baten ihn um Unterstützung. Die genauen Umstände konnten wir bislang noch nicht in Erfahrung bringen, doch einer seiner größten Erfolge war es, dass es ihm gelang einen Bürgerkrieg zu verhindern, der die Schweiz wahrscheinlich bis in ihre Grundfeste erschüttert hätte. Diesem Umstand verdankt er es auch, dass er später zum Schutzpatron der Schweiz ernannt wurde. Ich ganz persönlich war aus mehreren Gründen fasziniert vom Leben dieses Mannes und gleichzeitig fand ich es äußerst erstaunlich, wie viele Parallelen auch sein Leben zu dem von Franz von Assisi hatte. Beide waren ausgezogen, um ihren Weg in der ferne zu suchen und am Ende waren sie wieder direkt vor der eigenen Haustür gelandet, jedoch ohne den Kontakt zu ihren Familien je wieder aufzunehmen. Auf dem Heimweg erfuhren wir auch noch einiges über unsere Fremdenführerin und ihre eigene Verbindung zu Bruder Klaus. Sie war die jüngste von Luisias Kindern und galt von daher stets als die Liebe, Kleine. Sie spürte jedoch, dass weit mehr in ihr steckte, das dringend nach außen wollte. Sie war eine Heilerin mit großen Kräften, die in ihr schlummerten, die jedoch nie wirklich aus ihr raus durften. Das spürte sie selbst, und das spürten auch wir, als wir uns mit ihr unterhielten. Die Krux an der Sache war nur, dass sie sich selbst einredete, schon längst auf dem Weg zu sein, auf den ihr Herz sie führen wollte.

„Ich tue ja schon genau die Dinge, die ich machen will!“ meinte sie, „Ich arbeite in einer Kinderkrippe und kann dort viel weitergeben. Ich habe mir sogar schon Visitenkarten gedruckt, über die ich nebenbei Heilungen anbiete.“ Heiko und ich mussten grinsen. Wir kannten dieses Gefühl nur allzu gut, da wir es selbst immer wieder gefühlt und geglaubt hatten. „Du kannst es dir ein bisschen so vorstellen“, erklärte ich, „In dir steckt beispielsweise das Potential um einer der genialsten Herzchirurgen der Erde zu werden, doch du bist gerade Sprechstundenhilfe in einer kleinen Arztpraxis. Klar arbeitest du auch hier im medizinischen Bereich und man könnte nun sagen, dass du ja zumindest ein Stück weit auf dem richtigen Weg bist. Aber trotzdem bist du eben nicht da, wo du hingehörst. Es ist nichts anderes, als wenn du ein Kabelträger beim Fernsehen bist, obwohl in dir das Potential eines großartigen Regisseurs steckt.“ Dass es gerade Bruder Klaus war, zu dem sie so eine starke Verbindung spürte, kam auch nicht von ungefähr. So wie einst der Familienvater alles aufgeben musste, um zum Bruder zu werden, spürte auch sie, dass sie sehr viel loslassen musste, um wirklich ihrem Herzensweg zu folgen. Ein Gefühl, dass auch wir nur allzu gut kannten. Nach unserem kleinen Exkurs zu Bruder Klaus verabschiedeten wir uns von Luisia und ihrer Tochter und machten uns wieder auf den Weg. Der steile Berghang hatte sich in der Zwischenzeit leider nicht aufgelöst sondern lag noch immer direkt vor uns. Nun wollte er beklommen werden. So schön die Aussicht von hier auch über das Tal war, so entsetzt waren wir doch wieder darüber, wie sehr man es mit Zivilisationslärm zerstört hatte. Neben der Autobahn und der Zahnradbahn, die ebenfalls zum Pass hinauf führten wurde das Gebiet vor allem durch eine Steinverarbeitungsfirma beschallt. Das dumpfe Rauschen hallte von allen Seiten von den Berghängen wieder und erfüllte so das ganze Tal, bis hoch zum Pass. Der Zivilisationslärm war wie ein düsterer Schatten, der über der ganzen Schweiz zu liegen schien. Wenn man die Geräusche, sowie die vielen Strommasten und die häufigen Bausünden für einen Moment ausblendete, dann spürte man plötzlich wieder die Magie, die dieses Land einst ausgestrahlt haben musste. Dass die Menschen hier früher einmal einen viel direkteren Bezug zur geistigen Welt, also zu Engeln, Hütern, Waldgeistern und auch zu Mutter Erde hatten, war absolut kein Wunder. Die Barriere zwischen der physischen und der geistigen Welt war hier deutlich dünner, als an vielen anderen Orten. Doch um sie zu überschreiten brauchte man Stille und die gab es heute nicht mehr. So klar wie die Verbindung zur Natur hier früher einmal gewesen war, so klar war es nun, dass kaum noch jemand sie mehr aufbauen konnte.

   

Hinter dem Pass erreichten wir ein Hochplateau mit einem weiteren See. Auch dieser lag absolut traumhaft und wäre ohne die Autobahn an seinem Ufer ein herrliches Paradies gewesen. Für einen kurzen Moment führte uns unsere Straße hinter einen kleinen Berg, der nun zwischen uns und dem Ufer lag. Hier gab es ein kleines Dorf mit rund 20 Häusern, die sich über den Hang verteilten. Zum ersten Mal seit Tagen herrschte vollkommene Stille und man konnte für einen kurzen Moment erahnen, wie schön es hier einst gewesen ist. Kaum aber hatten wir das Ufer des Sees wieder erreicht, schallten auch schon die LKWs von der anderen Seite zu uns herüber. Vor uns lag nun der Brüning-Pass und rechts von uns, irgendwo versteckt im dichten Nebel befand sich der Kaiserstuhl. Wenige Minuten später erreichten wir Lungern, die Stadt am Fuße des Passes. Vollkommen erfroren suchten wir hier das Pfarramt und bekamen glücklicherweise auch sehr schnell einen gut beheizten Raum. Die Föhnwinde waren bereits seit Tagen vorbei und nun war fast stündlich spürbar, wie es kälter und kälter wurde. Den Nullpunkt überstiegen die Temperaturen vielleicht noch für einen kurzen Moment am Mittag. Sonst blieben wir im Gefrierbereich.

Spruch des Tages:

Mein Herr und mein Gott, nimm alles von mir, was mich hindert zu dir. Mein Herr und mein Gott, gib alles mir, was mich fördert zu dir. Mein Herr und mein Gott, nimm mich mir und gib mich ganz zu eigen dir. (Gebet von Bruder Klaus)

Höhenmeter: 380 m Tagesetappe: 18 km Gesamtstrecke: 19. 518,27 km Wetter: teils sonnig, teils bewölkt, aber immer kalt Etappenziel: Gästezimmer des Kapuzinerinnenklosters, Freiburg, Schweiz

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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