Tag 408: Der tote Pfarrer

von Heiko Gärtner
17.02.2015 15:30 Uhr

Wir haben schon aus den unterschiedlichsten Gründen keinen Schlafplatz an dem Ort bekommen, an dem wir eigentlich übernachten wollten. Es gab keinen Platz, der Zuständige war nicht da, nichts ging ohne Bezahlung oder die Menschen waren einfach nicht gewillt, Gäste aufzunehmen. Doch der Grund, aus dem wir gestern weiterziehen mussten war mit Abstand der absurdeste.

Hier gab es eine Pilgerherberge und nach Aussagen von allen Einheimischen, die wir getroffen haben einen Pfarrer der ein absoluter Schatz sein soll und sich immer über Wanderer freut, die er aufnehmen kann. Das einzige Problem war seine akute und permanente Abwesenheit. Hätten wir gleich von Anfang an alle Informationen gehabt, die wir nach und nach bekommen haben, dann hätten wir uns schon deutlich eher Gedanken über diese Situation gemacht. Doch so fanden wir uns zunächst damit ab, dass wir mal wieder warten mussten. Verdächtig war zunächst nur, dass niemand wusste, wo der Pfarrer eigentlich war. Dass die Gottesväter ständig in der Welt herumtingelten war nicht ungewöhnlich, aber zumindest die älteren Damen wussten eigentlich immer, wo sich ihr Pfarrer gerade befand. Der Terminplan eines Dorfgeistlichen ist in der Regel so öffentlich, wie wenn er ihn gleich bei Facebook posten würde. Doch diesmal hatte keiner eine konkrete Idee. „Vielleicht ist es bei einem persönlichen Gespräch?“ vermutete eine Frau und ein junger Mann war sich sicher, dass er gerade irgendwo etwas Essen gegangen war. Später vermuteten dann die gleichen Leute, dass er wahrscheinlich zuhause war uns schlief. „Er ist ein alter Mann und schon sehr schwerhörig, es kann sein, dass er die Klingel nicht hört,“ erklärte uns der Mann, der als einer der Wenigen im Ort auch Englisch sprach. Noch etwas später erfuhren wir, dass der Pfarrer bereits deutlich über 80 Jahre als war und eine ganze Reihe von sonderlichen Ticks sein eigen nannte. So verschwand er immer mal wieder für eine Stunde, tauchte dann irgendwo wieder auf und konnte meist selbst nicht sagen, wo er war. Wenn er verschwand, dann ließ er sein Haus meist unverschlossen, legte er sich jedoch zum Schlafen, verriegelte er alles bis auf den letzten Zentimeter.

Dies war das erste Mal, dass wir hellhörig wurden, denn zuvor hatten wir angenommen, dass es sich um einen sehr jungen Pfarrer handelte. Plötzlich fielen uns lauter Details auf, auf die wir zuvor nicht geachtet hatten. So steckte die Post vom Vortag noch immer im Briefkasten. Wäre der Pfarrer heute schon aus dem Haus gegangen, hätte er sie sicher hinausgenommen. Das Auto stand vor der Tür und jeder, den wir nach dem Pfarrer fragten bestätigte uns, dass er nie weit weg von seinem Auto war. Er sei nicht mehr gut zu Fuß, erklärte uns die Bibliothekarin, deshalb kann man sich sicher sein, dass er in der Nähe ist, wenn man sein Auto sieht. Auf dem Auto lag etwas Laub, was darauf hindeutete, dass es bereits eine Weile nicht benutzt wurde. Dies alles waren deutliche Indizien dafür, dass der alte Mann zuhause sein musste. Das Haus besaß vier verschiedene Klingeln und ein Telefon, die alle von außen hörbare Signale von sich gaben, wenn man sie betätigte. Doch ansonsten rührte sich nichts. Oben im ersten Stock stand ein Fenster weit offen, doch auch rufen half nichts. Was war also geschehen?

Der junge Mann mit dem Englischwortschatz meinte beiläufig in einem Nebensatz: „Ich denke nicht das er gestorben ist!“ doch so abwegig erschien uns der Gedanke nicht mehr. Die möglichen Erklärungsgründe, was mit dem Pfarrer los war wurden immer rarer und schließlich waren wir davon überzeugt, dass er wirklich entweder Tod war oder aber krank oder verletzt und wahrscheinlich Hilfe brauchte. Vielleicht war er gestürzt oder hatte einen Herzanfall bekommen.

Besorgt gingen wir zur Bibliothekarin zurück und berichteten ihr von unseren Befürchtungen.

„Oh, das tut mir leid!“ meinte sie, „dann kann ich euch nicht weiterhelfen. Eine andere Übernachtungsmöglichkeit gibt es hier nicht und außer dem Pfarrer hat keiner einen Schlüssel!“

Ich war verwirrt. Hatte sie mich nicht richtig verstanden oder war es ihr wirklich vollkommen gleichgültig, dass der Pfarrer vielleicht in Not oder gar schon tot war?

Ich versuchte es noch einmal: „Es geht mir nicht darum, ob wir einen Schlafplatz bekommen oder nicht, ich mache mir Sorgen, dass dem Pfarrer etwas zugestoßen ist. Niemand hat ihn gesehen, allen Anzeichen nach ist er in seinem Haus, die Post wurde nicht entnommen und er reagiert auf kein Sturmklingeln, keine Rufe und kein Telefon. Ich will keine Panik verbreiten, aber ich denke dass es wirklich gut wäre, wenn jemand nach ihm sieht. Vielleicht braucht er wirklich Hilfe.“

„Aha!“ sagte die Frau und machte noch immer nicht den Anschein als wüsste sie, was das alles mit ihr zu tun haben soll. „Ok, aber ich glaube dann kann ich euch wirklich nicht helfen! Es tut mir leid!“ Mit diesen Worten wandte sie sich wieder ihren Büchern zu. Der junge Mann war verschwunden und die übrigen Anwohner im Umkreis kümmerten sich genauso wenige um unsere Worte, wie die Frau aus der Bibliothek. Wir konnten es nicht begreifen. Wie konnte es sein, dass uns die Menschen erst erzählten, was für ein toller Mann ihr Pfarrer war und dass sich dann niemand um ihn kümmerte. Es wollte keiner nach ihm schauen.

Da es nun schon fast dunkel war, mussten wir uns nun auf die Weiterreise machen. Mit einem etwas mulmigen Gefühl im Bauch ließen wir den verschollenen Pfarrer hinter uns und wanderten in der Abendsonne weitere 11 Kilometer bis nach Nepi, wo wir in einem Kloster übernachten durften. Es war wieder eines jener Klöster, die kurz vor dem Sterben waren. In den unzähligen Räumen lebte niemand mehr. Ein einzelner Mann öffnete uns die Pforten und überließ uns zwei Zimmer. In der kompletten Etage waren zuvor die Sicherungen herausgedreht worden. Er schaltete sie extra für uns ein. Das war der einzige Kontakt, den wir zu den Ordensbrüdern hatten.

Die Gegend hier ist landschaftlich eine der sonderbarsten, durch die ich je gereist bin. Es ist eigentlich alles relativ flaches Land. Doch dieses Land ist kreuz und quer durchzogen von tiefen Kratern und Schluchten. Es ist, als hätte sich jeder Fluss der fier fließt hundert Meter tief in den Boden gegraben. In den Felswänden, die dabei entstehen, haben die Menschen früherer Zeiten Höhlen und richtige Häuser gegraben. Heute ist alles Unbewohnt aber früher müssen es einmal ausgefallene Behausungen gewesen sein.

Unseren Abend konnten wir heute wieder in einem Clarissa-Kloster verbringen. Leider ist es hier nicht so warm, wie sonst in den Nonnenklöstern. Dafür haben wir mal wieder Internet, wenn auch nur im Freien unter dem sternenklaren Nachthimmel. Ich bin ein Eiszapfen und kann kaum mehr tippen. Nun werde ich mich so tief wie möglich in die Federn kuscheln um wieder warm zu werden. Gute Nacht!

Spruch des Tage: Sie würden einen wirklich sterben lassen.

 

Höhenmeter: 230 m

Tagesetappe: 14 km

Gesamtstrecke: 7527,27 km

Wetter: bewölkt

Etappenziel: Clarissa-Kloster, 01033 Civita Castilana, Italien

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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