Tag 1121: Überbuchte Obdachlosenunterkunft

von Heiko Gärtner
17.02.2017 00:40 Uhr

24.01.2016

Das Wetter hatte sich wieder beruhigt und wir konnten unsere Reise im Trockenen fortsetzen. Nach unserer Durchquerung der ersten Vor-Pyrenäen lag heute wieder eine kurze Flachebene vor uns. Sie war zwar weniger anstrengend als die Berge, dafür aber auch nicht so schön, denn man hatte wieder einmal alle Autobahnen und Hauptstraßen hier hindurch geleitet. Unser Ziel lag am Ende der Ebene, kurz bevor es wieder in die Berge ging. Wir erreichten es nur ein paar Minuten bevor das Rathaus Mittagspause machte und es wirkte, als wäre es hier so unkomplex wie schon seit Wochen nicht mehr. Ich ging ins Rathaus, stellte das Projekt vor, man tätigte einen Anruf und nur zwei Minuten später wurden wir von einem Mann abgeholt, der uns in unser Quartier brachte. „Toll“, dachte ich, „wenn es doch nur immer so laufen würde!“

Der Raum, den wir bekamen trübte die Freude jedoch ein wenig, denn wie sich herausstellte handelte es sich um eine Obdachlosenunterkunft. Es war ein winziges Häuschen mit einem Zimmer, einer kleinen Dusche und zwei Betten. Die Toilette befand sich im Garten und stand der gesamten Stadt zur Verfügung. An und für sich wäre es kein schlechter Platz gewesen, aber leider gab es hier niemanden, der sich dafür verantwortlich fühlte. Auf dem Boden stand das Wasser teilweise einen ganzen Zentimeter hoch, die Matratzen waren von Urin- und Kotflecken übersät, in der Kaffeekanne stand noch der Kaffee von vor zwei Wochen, der mit einer dicken Schimmelschicht übersät war, und die Wände waren insgesamt feucht und ebenfalls schimmlig. Es gab vier kleine Herdplatten, die unter der dicken Schicht Peke kaum noch zu erkennen. All dies war aber nichts gegen das Klo im Garten. Die Türen waren nicht nur eingetreten oder beschädigt, sie waren komplett verschwunden. Man konnte also von der Straße direkt bis zur Schüssel durchsehen. Nur dass es keine Schüsseln gab, sondern lediglich ein Loch im Boden. Das an sich war nicht weiter tragisch. Schade war nur, dass die letzten dreißig Benutzer dieses Loch nicht wirklich getroffen hatten, so dass es unter der braunen Scheißekruste kaum noch zu erkennen war. Schade war auch, dass es keine funktionierende Klospülung gab. Die Anwohner der Stadt hielt dies aber nicht davon ab, trotzdem alle paar Minuten zum pinkeln oder kacken bei uns vorbeizuschauen. Ja, wir wussten jedes Mal, ob sie ein kleines oder ein großes Geschäft verrichteten, denn von unserem Zimmer aus hatte man einen tiefen Einblick, ob man dies nun wollte oder nicht. Da der Raum ohnehin schon dreckiger war als eine Jauchegrube schien es zumindest der perfekte Ort zu sein, um sich mal wieder zu rasieren und die Haare zu schneiden, was in meinem Fall ja in etwa das selbe war. Jetzt aber begann erst der kuriose Teil des Tages. Ich stand halb nackt über das Waschbecken gebeugt und hatte etwa ein drittel meiner Haare abrasiert, als plötzlich die Tür aufsprang und zwei Männer ins Zimmer platzten. Kein Klopfen, kein „Entschuldigung?“, nichts! Sie standen mitten im Raum und hatten nicht einmal ein komisches Gefühl, mich beim Rasieren zu stören. „Habt ihr die 015 angerufen?“ fragte der kleinere der beiden Männer aus dem Nichts heraus. Er war der Mann, der uns vor gut zwei Stunden hier in den Raum geführt hatte. Ich verstand kein Wort und brachte dies professionell zum Ausdruck: „Hä?“

„Die 0-15! Habt ihr da angerufen?“ fragte er erneut und ich verstand noch immer nichts. Nun übernahm der zweite Mann, der etwas Englisch sprach und brachte Licht ins Dunkle. Wie bereits vermutet war unser Raum eigentlich eine Unterkunft für Obdachlose. Wenn man hier in der Gegend kein Zuhause hatte und eine Bleibe brauchte, musste man die Nummer 0-15 anrufen und wurde dann vermittelt. Es war eine Art Sozialhotline über die man registriert wurde und dann, wenn möglich einen Platz bekam. Da uns der Rathausmitarbeiter das Zimmer jedoch einfach so gegeben hatte, hatten die zuständigen Mitarbeiter von der Sozialhotline noch keine Ahnung, dass wir hier waren. „Du sollst ans Telefon gehen und mit ihnen sprechen!“ sagte der kleine Mann und drückte mir sein Handy an den Kopf. Er verhielt sich so dreist, dass ich langsam wirklich fuchtig wurde, denn ich war gerade noch dabei, mein T-Shirt anzuziehen. „Hallo?“ fragte ich in den Hörer und wollte wissen, was denn nun eigentlich das Problem war. Ich sollte meinen Namen und mein Alter angeben, sowie die Dauer unseres Aufenthaltes und dann schien erst einmal wieder alles geklärt. „Super!“ sagte nun der Mann, der Englisch sprechen konnte, „Dann sind wir ja heute Zimmernachbarn!“ „Wie bitte?“ fragte ich erstaunt. „Ich werde mit euch hier übernachten. Ihr wart nicht registriert, weshalb das Zimmer doppelt vergeben wurde. Aber nun ist ja alles geklärt und wir können zu dritt hier übernachten!“ „Oh nein!“ entgegnete ich vehement, „das ist nichts für uns!“ „Warum denn nicht?“ fragte er enttäuscht. „Wir werden bis spät in die Nacht arbeiten, brauchen Zeit und Raum für uns und dieses Zimmer ist viel zu klein für drei Personen“, erklärte ich. „Kein Problem!“ entgegnete er, „Ich bin ruhig und es stört mich nicht, wenn ihr laut seit oder arbeitet.“ Doch es war keine Option für uns, das Zimmer zu teilen. Wir hatten dies bereits in den Pilgerherbergen gehasst und nun in einer Obdachlosenunterkunft war es definitiv nicht besser. Nicht, dass wir etwas gegen den Mann hatten oder gegen Obdachlose an sich. Die meisten die wir kennengelernt hatten, waren tolle Leute, die uns nicht selten stärker ans Herz wuchsen, als die meisten anderen. Aber wenn wir in den letzten drei Jahren eines gelernt hatten, dann war es, dass nichts über einen Platz für sich alleine ging.

Natürlich war es auch keine Option, denn Mann davon abzuhalten, zu uns zu ziehen. Anders als wir war es ja wirklich obdachlos und bedürftig und hatte kaum eine andere Option, als diese stinkende Baracke. Für uns war es eher eine Möglichkeit, unseren Schlafplatz noch einmal upzugraden. Wenige Minuten später stand ich erneut im Rathaus und sprach mit dem Bürgermeister. Während meiner Abwesenheit verbrachte Heiko die Zeit mit unserem neuen Gast. Sein Versprechen, sich ruhig und unauffällig zu verhalten, so dass wir zu dritt gut miteinander auskommen konnten, hielt keine zwei Minuten an. Dann begann er bereits an Heikos Wagen zu zerren, sich einen Stuhl hin zu rücken, den er dabei fast auseinander brach und mit dem Bett herumzuhantieren, dass er ebenfalls fast zerstörte. „Jetzt entspann dich erst mal und hör auf, hier alles kaputt zu machen!“ wies Heiko ihn an. „Ich kann verstehen, dass du frustriert bist, weil dich deine Frau vor die Tür gesetzt hast und dass du gerade das Gefühl hast, das dich keiner mag, aber diese Dinge können nichts dafür. Und vor allem meine Sachen gehen dich nichts an!“ „Woher willst du denn wissen, ob mich meine Frau rausgeworfen hat?“ fragte er erstaund. „Du hast relativ gute Kleidung an, die weitgehend sauber ist und nicht nach der eines Obdachlosen aussieht. Außerdem fühlst du dich in deiner Haut komplett unsicher, bist nervös und ängstlich. Du bist also weder ein richtiger Obdachloser, noch ein Berber der die Tricks der Straße beherrscht, sondern lebst erst seit kurzem auf diese Weise. Außerdem schaust du drein wie ein begossener Pudel und rauchst eine Kippe nach der nächsten, nur um dich abzulenken. Also bleibt nicht mehr viel übrig was dir wohl passiert sein kann. Du bist voller Wut, handelst unkontrolliert und aggressiv, schaust dabei aber aus, als könntest du keiner Fliege etwas zu leide tun. Also geht es um unterdrückte Wut gegenüber einer geliebten Person, die du dir selbst nicht eingestehen willst. Meine Vermutung ist also, dass dich deine Frau vor die Tür gesetzt hat und du nun nicht weißt, wo du hin sollst.“ „Das kannst du nicht wissen!“ sagte er empört. „Es stimmt also nicht?“ fragte Heiko rhetorisch. „Doch! Es stimmt alles, aber das kannst du nicht wissen!“ Als Heiko ihm ein bisschen erklärte, wieso er was wusste, taute der Fremde ein bisschen auf. Im Grunde war es ein netter und herzensguter Kerl, wenngleich er sich alle Mühe gab, das zu verbergen. Vor allem vor sich selbst. Immer wieder betonte er, dass es kein Problem für ihn sei, wenn wir hier blieben. Dabei begann er, sich einen Kaffee in der kleinen verpekten Küche zu machen. „Sicher, das du den trinken willst?“ fragte Heiko und konnte seinen Ekel bei dem Gedanken nicht ganz unterdrücken. „Warum denn nicht? Ich habe die Kanne doch ausgewaschen!“

„Ja,“ gab Heiko zu bedenken, „aber die ganze Maschine ist voller Schimmel und die Kanne habe ich zuvor ebenfalls schon vier Mal gewaschen. Nicht um daraus zu trinken, sondern nur damit ich mich bei ihrem Anblick nicht übergeben muss. Irgendwie scheint es mit deiner Selbstachtung noch nicht ganz so weit her zu sein. Deswegen akzeptierst du auch die Schlafsituation mit uns dreien. Du musst zugeben, dass es für dich ebenfalls die Hölle wäre, hier mit uns eingesperrt zu sein. Du hast nur eine solche Angst davor, dass du auf der Straße pennen musst, dass du einfach alles hinnimmst und akzeptierst. Egal was es auch ist.“ Er gestand, dass er sich einfach nicht vorstellen konnte, dass wir eine andere Lösung finden. In seinen Augen gab es nur drei Optionen. Entweder er musste auf der Straße schlafen, was ihn wahrscheinlich umbringen würde, wir mussten auf der Straße schlafen, was er nicht übers Herz brachte, oder wir alle quetschten uns gemeinsam in die kleine stinkende Kammer. „Mach dir da mal keine Sorgen!“ beruhigte Heiko ihn, „Franz wird in ein paar Minuten zurückkommen und einen anderen Schlafplatz für uns haben. Dann hast du hier dein Reich für dich und wir haben unseres für uns! Wenn du hier draußen überleben willst, solltest du aber langsam einmal anfangen, ein bisschen entspannter zu werden. Wir haben schon viele Obdachlose kennen gelernt, aber noch nie einen, der so gestresst war wie du. Außer vielleicht er war auf Speed.“ Und in der Tat, wenige Minuten später kam ich mit der frohen Botschaft zurück, dass wir eine Alternative gefunden hatten. Gleich in der Nachbarschaft gab es ein leerstehendes Haus von einer Organisation, die mit der Caritas vergleichbar war. Hier wurden Kleider und Kuscheltiere gelagert, aber ansonsten war es nicht in Benutzung. Alles in allem hatte uns die ganze Aktion mit diskutieren, einpacken, umziehen, auspacken und wieder einrichten etwas über eine Stunde gedauert. Eine Stunde, die gut hätte vermieden werden können, wenn der Mann im Rathaus gleich zu beginn ein bisschen nachgedacht hätte. Aber immerhin mussten wir nicht aus der Stadt und auch nicht im Zelt übernachten. Drei Mal bekamen wir nun noch Besuch von Stadtmitarbeitern. Einmal brachten sie gute, saubere und neue, wenn auch überflüssige Klappbetten, einmal einen zusätzlichen Heizer und einmal wollten sie uns nur mitteilen, dass später noch eine Messe gehalten wurde. Nachdem man uns also erst als Obdachlose behandelt hatte, folgte nun offenbar ein schlechtes Gewissen, das man wieder gut machen wollte.

Spruch des Tages: Es gibt immer eine Alternative

Höhenmeter: 450 m Tagesetappe: 20 km Gesamtstrecke: 20.498,27 km Wetter: Sonnig aber kalt bei -5°C Etappenziel: Atelier der Maler, 09210 Saint Ybars, Frankreich

Hier könnt ihr uns und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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