Tag 1363: Vorübergehende Sinnkrise

von Heiko Gärtner
01.03.2018 04:55 Uhr

Den Großteil der Nacht verbrachte ich nicht in unserem Weinfass, sondern im angrenzenden Sanitätshaus des Campingplatzes, wo ich mir ein kleines Büro zum Arbeiten einrichtete. Alles war perfekt hergerichtet und ich war nun bereit, mich ans Werk zu machen, um all die Dinge zu erledigen, die noch offen auf meiner To-Do-Liste herumstanden.

Mit Blumen geschmückte Kirche

Mit Blumen geschmückte Kirche

Doch es kam wieder einmal anders. Die Müdigkeit übermannte mich stärker als ich es erwartet hatte und so wechselte ich in der Nacht vor allem zwischen einem Schlafen im Liegen und einem Davonschlummern im Sitzen. Ein Zustand, der mich noch oft begleiten sollte und der in den meisten Fällen zu wenig Erholung aber viel Frust und Unzufriedenheit führte. Es fühlte sich jedes Mal nach Versagen an, so als hätte ich keinerlei Kontrolle über mich selbst und wäre wie ferngesteuert. Was wahrscheinlich nicht einmal ganz falsch ist.

Mittelalterliche Kirche in rötlichem Lichtschein

Mittelalterliche Kirche in rötlichem Lichtschein

An diesem Tage jedoch führte die Enttäuschung darüber, dass ich wieder keinen Schritt weitergekommen war, obwohl ich so viel hätte erledigen können, zu einer regelrechten Sinnkriese im Bezug auf meine Arbeit im Allgemeinen und auf den Blog im Besonderen. Seit knapp vier Jahren schrieb ich nun täglich einen Bericht und hatte dennoch nicht das Gefühl, damit besonders viel erreicht zu haben. Plötzlich stellte ich alles in Frage. Machte es überhaupt einen Sinn, die Zeit auf diese Weise zu investieren, vor allem, wenn ich insgesamt so ineffektiv arbeitete? Interessierte es überhaupt jemanden, was ich hier schrieb? Oder war der Blog nur noch eine Art Jammerkasten, dem ich meine Probleme erzählte und durch den ich mich auf die Dinge im Leben versteifte, die gerade noch nicht so gut liefen? Konnte ich wirklich dazu beitragen, jemanden zu einem freien Leben zu inspirieren, oder hielt ich am Ende sogar Menschen davon ab, weil ich oft dieses Gefühl von Schwere übermittelte, so als wäre mein Leben hart, schwierig und unangenehm?

Die Fragen trafen mich so hart, dass ich in den nächsten Tagen einfach nicht in der Lage war, einen Tagesbericht zu schreiben. Es kam mir nicht richtig vor und so konzentrierte ich mich auf andere Aufgaben, wie beispielsweise unsere Erlebnisseite, die ja ebenfalls viel Zeit und Pflege brauchte. Zum Glück verliefen die ersten Tage recht Ereignislos und bestanden nun nur noch aus dem Wandern entlang des Greenways, dem Ankommen in irgendeiner Herberge und der Arbeit an der Seite. Teilweise wurde es nun wieder schwerer, einen Platz zu finden und gerade an den Tagen an denen ich das Gefühl hatte, niemals einen Schritt weiter zu kommen, verging die Zeit dabei wie im Flug. Schließlich erreichten wir eine kleine, etwas verbaut wirkende Stadt mit einer recht ungewöhnlichen Kirche, die nur noch eine Tagesetappe von Mount Sant Michelle entfernt lag.

Minigolfplatz vor der Kirche

Minigolfplatz vor der Kirchell

Nach einem kurzen hin und her bekamen wir hier einen Schlafplatz auf einem Campingplatz, der nicht gerade in unsere Memmoiren als einer der Top-Schclafplätze einging. Rein Prinzipiell war es nicht einmal verkehrt. Es war ein kleines Häuschen, dass als Aufenthaltsraum für den Friedhof diente. Er hatte jedoch einige Haken, die uns erst im Laufe der Zeit bewusst wurden. So befanden wir uns zum einen auf dem ersten Campingplatz dieses Reiseabschnittes, der auch im Winter belebt war. User Schlafplatz wurde also immer wieder von anderen Campern aufgesucht, die an „unserem“ Tisch aßen, neben uns Fernsehen schauten oder sich einfach nur unterhalten wollten. Da der Campingplatz zunächst vollkommen verlassen gewirkt hatte und wir unseren Raum bereits als unser privates Wohn- und Schlafzimmer anerkannt hatten, war dies zunächst etwas befremdlich. Es führte aber auch dazu, dass wir einen jungen Mann kennen lernten, der gerade dabei war, mit dem Fahrrad die gesamte Französische Küste abzufahren. Er war bereits nahezu am Ende seiner Reise und trug daher sehr gemischte Gefühle in sich. Auf der einen Seite trauerte er bereits jetzt darum, dass seine Zeit der Freiheit und Unbestimmtheit bald vorbei war, auf der anderen Seite freute er sich aber auch darauf, wieder etwas mehr Bequemlichkeit und Komfort und weniger Anstrengung und Kälte in sein Leben zu lassen. Auch er hatte vor, am Folgetag Mount Saint Michelle zu besuchen und so sollte unser Zusammentreffen in dem Gemeinschaftsraum nicht unsere letzte Begegnung bleiben.

Der zweite große Haken, den unser Schlafplatz hatte war der, dass man keine Kontrolle über das Licht hatte. Es wurde durch eine zentrale Stelle des Campingplatzes automatisch ein und ausgeschaltet. So kam es, dass dieses Mal Heiko in die Toilette auswanderte, da es auch weit nach Mitternacht noch immer taghell war. Dafür durfte ich dann die zweite Hälfte der Nacht mit einer Taschenlampe im Dunkeln arbeiten, bis es gegen halb sechs plötzlich wieder Hell wurde.

Spruch des Tages: Wer nachtd schläft, braucht sich nicht zu wundern, wenn er am Tage Arbeiten muss. (Spruch auf einem Kühlscrankmagneten)

Höhenmeter 80 m

Tagesetappe: 12 km

Gesamtstrecke: 25.646,27 km

Wetter: sonnig und warm

Etappenziel: Gemeindehaus der Stadt, Brion, Frankreich

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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