Tag 969: Der letzte Tag in Ungarn

von Heiko Gärtner
09.09.2016 21:39 Uhr

13.08.2016

Bevor wir unser kleines Holzhäuschen bezogen hatten, konnten wir einen kurzen Blick in die Fabriken unserer Gastgeber werfen. Er waren Industrienähereien, in denen verschiedene Kleidung hergestellt wurde. In einer großen, alten Halle saßen die Frauen an langen, in Reihen aufgestellten Tischen, an ihren Maschinen und nähten was das Zeug hielt. Die Rahmenbedingungen mochten hier besser sein, und doch kamen wir nicht umhin, den Anblick der Frauen im Licht der Leuchtstoffröhren und den rhythmisch tackernden Lärm der Maschinen sofort mit einem Gefühl von Sklavenarbeit zu verbinden. Klar waren es keine Sklaven im eigentlichen Sinne, da sie ja bezahlt wurden. Aber dennoch waren es Arbeitsbedingungen, die definitiv krank machten. Am nächsten morgen lernten wir unseren Gastgeber dann noch persönlich kennen. Er war ein netter junger und aufgeschlossener Mann und damit beeits der zweite grundsympathische Sklaventreiber, den wir auf unserer Reise kennenlernen durften.

Kurz hinter unserem Gästehaus endete unsere Straße wieder einmal an einem Fluss, über den man nur mit einer Fähre übersetzen konnte. Dieses Mal befand sich die Fähre jedoch auf der anderen Seite des Flusses und im ersten Moment sah es nicht so aus, als wäre überhaupt ein Fährmann anwesend. Direkt neben der Überfahrtstelle gab es jedoch einen kleinen Campingplatz mit einer Bar, in der wir nach weiteren Informationen fragen konnten. Der Campingplatzbesitzer war zunächst vollkommen erstaunt, warum wir denn auf die andere Seite des Flusses wollten. "Es macht keinen Sinn, überzusetzen", meinte er, "auf der anderen Seite gibt es nur noch Felder und dann kommt schon die Grenze zur Slowakei. Sicher, dass ihr da hin wollt?" Wir grinsten. "Ja, genau da wollen wir hin!" Wir erzählten ein bisschen von unserer Reise und am Ende war er so fasziniert, dass er sogar die Kosten für die Fähre übernahm. Dann ging er mit uns ans Ufer und schrie auf die andere Seite hinüber. Wir verstanden nicht genau was er sagte, aber es wird in etwa das Folgende gewesen sein: "Hey Schorsch! Beweg deinen faulen Arsch hier rüber! Du hast Kundschaft! Die Fahrt geht auf mich!"

Nun kam Leben auf die Fähre. Aus dem Schatten trat ein Mann, der zuvor reglos dagesessem und geangelt hatte. Dies machte anscheinden den Großteil seiner Arbeit aus, denn Menschen, die hier übersetzen wollten gab es wirklich so gut wie nie, wie uns der Campingplatzbesitzer aufgeklärt hatte. Unglücklicher Weise war die Ströhmung in diesem Fluss nicht stark genug, so dass sich das Schiff nicht mit ihrer Hilfe über den Fluss bewegen konnte. Stattdessen wurde ein Motor verwendet, der ein großes Schaufelrad antrieb. Das sah zwar recht lustig aus, war aber bei weitem nicht so effektiv. Was die Landschaft anbelangte, so hatter der Campingplatzbesitzer nicht gelogen. Es gab hier tatsächlich nichts außer Felder und Wälder und einige kleine Dörfer. Wir wanderten also durch ein Niemandsland und ihr könnt euch kaum vorstellen, wie angenehm das war. Die Welt konnte so unglaublich schön, ruhig und harmonisch sein, wenn es keine Menschen gab, die dies mit aller Macht zu verhindern suchten. Selbst die Dörfer waren hier nun so klein, dass man in ihnen sogar Picknicken konnte und nicht das Gefühl hatte, sofort wieder aus ihnen fliehen zu müssen. Erst mit der Schlafplatzsuche schwand die Entspannung heute etwas. In unserem Zielort gab es eine kleine schmucke Kirche mit einem bewohnten und belebten Pfarrhaus daneben. Dennoch ließ sich kein Pfarrer ausmachen. Die Information einer Nachbarin lautete, dass der Pfarrer mit seiner Familie gerade in Rumänien war und erst am Sonntag wieder nach hause kam. Also gingen wir weiter, versuchten unser Glück noch einmal erfolglos bei zwie oder drei anderen Adressen und entschieden dann, den langgezogenen Ort zu verlassen. Kurz vor dem Ortsausgang kamen wir jedoch am Friedhof vorbei, wo gerade eine Beerdigung stattgefunden hatte. Die Trauergemeinde strömte nun wieder nach hause und wir nutzen die Gelegenheit, um einzelne von ihnen nach dem Pfarrer zu fragen, der den Trauergottesdienst gehalten hatte. Die Information lautete, dass er bereits nach hause gefahren sei und sich nun in dem Haus aufhalte, in dem wir ihn zuvor nicht angetroffen hatten. War es also eine Lüge oder ein Irrtum gewesen, dass er nach Rumänien gereist war? Er konnte ja kaum gleichzeitig im Ausland sein und hier eine Beerdigung zelebrieren. Wir stellten unsere Wagen ab und ich joggte noch einmal den ganzen Weg zurück zur Kirche. Doch das Haus war noch immer verschlossen und leer. In der Schule nebenan fand der Leichenschmaus statt und es gelang mir, einen englischsprachigen Trauergast aufzutreiben, der mir mehr über die Sache sagen konnte. Die Nachberin hatte Recht gehabt, der Pfarer war tatsächlich im Urlaub und die Beerdigung war von einem Stellvertreter durchgeführt worden, der aus einem Nachbarort stammte. Es war also der Mann gewesen, der uns einen Bären aufgebunden hatte und nicht die Nachberin. Warum er das getan hatte, blieb uns ein Rätsel. Aber es half nichts. Ich joggte zurück zu Heiko und wir zogen einen Ort weiter um uns hier noch einmal auf die Suche nach einem Schlafplatz zu machen. Die slowakische Grenze lag nun bereits zum Greifen nahe.

Zunächst sah es so aus, als hätten wir auch hier wieder keinen Erfolg. Bei den Pfarrern der Region schien es eine Art Volkssport zu sein, aus irgendwelchen Gründen im Ausland zu verschwinden. Dieses Mal jedoch, gab es eine Alternative. Der ehemalige Bürgermeister lud uns ein, im alten, verlassenen Haus seines verstorbenen Großvaters zu übernachten. Wir mussten uns erst einen Platz zwischen all den alten, verstaubten Möbeln freischaufeln, die überall herumstanden, aber dann konnten wir es uns hier gemütlich machen. Kaum hatten wir uns eingerichtet, waren wir von der Familie bereits adoptiert worden. Dei Mutter des ehemaligen Bürgermeisters brachte und etwas zum Essen und nahm dafür unsere Kleidung mit, um sie in die Waschmaschine zu stecken, was diese auch dringend nötig hatten.

Spruch des Tages: Was ist denn nur mit diesen Pfarrern los!

Höhenmeter: 600 m Tagesetappe: 19 km Gesamtstrecke: 17.561,27 km Wetter: überwiegend sonnig und warm Etappenziel: Pfarrhaus, Trzemesnia, Polen

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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