Tag 208: Extremadura

von Franz Bujor
28.07.2014 19:59 Uhr

Das Thema mit nervigen Mitpilgern erledigte sich am Abend fast von selbst. Die meisten Herbergenbesucher hatten mitbekommen, dass die morgige Etappe ein wahrer Spießroutenlauf werden würde und reisten daher noch vor Einbruch der Dunkelheit wieder ab. Was ihnen das brachte wurde mir zwar nicht klar, denn die Strecke veränderte sich ja nicht von heute auf morgen. Sie würde wohl kaum über Nacht zehn Kilometer länger werden.

Entweder mussten sie also noch heute den Spießroutenlauf hinter sich bringen, was nach der Strecke, die sie bereits bewältigt hatten bestimmt keine Freude war oder aber sie nahmen irgendein Verkehrsmittel. Doch auch das hätten sie am nächsten Tag noch genauso machen können. Uns sollte es jedoch recht sein, denn plötzlich mussten wir unser Schlafquartier nicht mehr mit 10 sondern nur noch mit drei weiteren Pilgern teilen. Ein Spanier in den Mittdreißigern kam spät am Abend und man konnte deutlich sehen, dass es sein erster Tag als Pilger war. Er sprach nicht viel und fiel daher auch nicht weiter auf. Die beiden anderen waren zwei Frauen, die sich auf dem Weg kennengelernt hatten und nun gemeinsam pilgerten. Eine von ihnen kam aus Frankreich, die andere war Australierin. Sie waren nette und freundliche Zeitgenossen und wir unterhielten uns am Abend eine weile mit ihnen. Spannend war, dass auch die beiden Frauen das Gefühl hatten, dass die Menschen hier in Spanien für ihre Armut in erster Linie selbst verantwortlich sind.

Da die Essensjagd bei den Restaurants nahezu ergebnislos blieb und da am Sonntag alle kleinen Geschäfte geschlossen hatten, suchten wir nach privaten Alternativen. Wieder einmal war es verblüffend, wie schnell und unkompliziert das ging. Ein Mann, der im Schatten in seinem Garten saß, füllte mir zwei Tüten mit Tomaten, Zwiebeln, Zucchini und Paprika aus eigenem Anbau, sowie mit einigen Hühnereiern aus eigener Haltung. Kein Supermarkt hätte uns mit so gesunden und guten Sachen versorgen können. Heute im Laufe des Tages lernten wir dabei übrigens noch eine andere wichtige Lektion über das Lagern von Lebensmitteln. Bewahrt niemals Paprika und Obst im gleichen Stoffbeutel auf. All unsere Pfirsiche schmeckten so intensiv nach Paprika, dass man sie fast nicht mehr essen konnte. Es war ein absolut verwirrendes Geschmackserlebnis.

Alles in allem war die Herberge dennoch nicht mehr als eine absolute Notunterkunft. Die Toiletten waren mit einer Lüftung ausgestattet, die jeden aus dem Schlaf riss, sobald einer zum Pinkeln musste. Die Türen quietschten und die Raumatmosphäre war eine Katastrophe. Warum baute man eine Herberge so, dass man sich unmöglich darin wohl fühlen konnte? Es waren so viele Kleinigkeiten, die eine gute Stimmung gemacht hätten und es wäre nicht aufwendiger gewesen, sie ordentlich zu machen. Das, was einem jedoch wirklich Schlaf kostete, war nicht die Herberge selbst, sondern das nahegelegene Rathaus und die nahegelegene Kirche. Beide schlugen mit lauten, schrillen Glocken zu jeder vollen Stunde und das im Abstand von knapp einer Minute. Um Mitternacht bedeutete dies also 24 Glockenschläge, von denen jeder ausreichte, um einem das Trommelfell zu zerreißen.

Wirklich ausgeschlafen waren wir dementsprechend heute morgen nicht. Dafür aber wieder einmal allein. Unsere Mitgäste waren bereits um 6:00 in der Früh aufgebrochen. Da Heikos Schuhe so sehr abgelaufen waren, dass sie nicht mehr gerade stehen konnten und da meine nicht wirklich besser aussahen, entschieden wir uns dafür, unsere neuen Schuhe auszuprobieren. Sommerschuhe hatten wir noch immer nicht, also blieben nur die dicken Bergschuhe übrig, die eigentlich für schlammige Regentage oder für den Winter gedacht waren. Es waren gute Schuhe, doch sie waren noch dicker als die Wanderschuhe, die wir bislang trugen. Und vor allem waren es dicke Lederbotten, die ihre Zeit zum Einlaufen brauchten, bis sie irgendwann bequem wurden. Man sollte so etwas eigentlich langsam machen, doch leider war uns das heute nicht vergönnt. Der Weg führte zunächst auf einer Schotterstraße mitten durch die Steppe. Es war kein Feldweg und auch keine Wanderpiste, sondern eine richtige Straße, eine Dirtroad. Im australischen Outback gab es fast ausschließlich solche Straßen. Auch auf Island war man froh, wenn man so eine Fahrbahn zur Verfügung hatte. Doch mitten in Europa hätten wir so etwas nicht erwartet. Auch wenn die Straße nicht so heiß wurde wie der Asphalt und auch wenn sie keine giftigen Gase ausdünstete, konnte uns der Schotter trotzdem nicht ganz überzeugen. Zum einen verursachte er einen wirklich anständigen Lärm, wenn man ihn mit dem Wagen befuhr und zum anderen wirbelte jedes vorbeifahrende Auto so viel Staub auf, dass wir die Hände vor Augen nicht mehr sehen konnten.

Carlos und Beate, die beiden Pilgerexperten, die wir in Portugal getroffen hatten, haben mit ihrer Beschreibung nicht untertrieben. Diese Region von Spanien heißt Extremadura und das nicht ohne Grund. Übersetzt bedeutet der Name: „Extrem Hart“ und besser könnte man das Land kaum beschreiben. Nach jahrelangem Survivaltraining und nach all den Wildniskursen, die wir bekommen und gegeben haben, würden wir uns hier als Ausgesetzte trotzdem selbst keinen Tag geben. Das Land und vor allem die Sonne waren erbarmungslos. Wie schafften es nur die Kühe und die Schafe hier zu überleben? Das was uns noch mehr faszinierte waren die Wassermelonenfelder. Nie hätten wir uns vorstellen können, dass eine Frucht mit so viel Flüssigkeit in einer so trockenen Gegend wachsen könnte. Und gerade als wir über dieses Mysterium nachdachten, hielt ein Mann mit seinem Auto neben uns und schenkte uns ein besonders prachtvolles Exemplar. Es war gar nicht leicht, es auf dem Wagen zu verstauen, doch es lohnte sich definitiv, das zusätzliche Gewicht mitzunehmen. Sie war nicht nur unglaublich saftig, sondern schmeckte auch intensiver als jede Wassermelone, die ich zuvor in meinem Leben gegessen hatte.

Auf den ersten 20km sahen wir außer Steppe, Kühen und einigen kleinen Farmen, die weitgehend verlassen wirkten lediglich ein paar riesige Sonnenkollektoren. Ob es wohl ein Zufall war, dass die Solarkraftwerke ausgerechnet an der Via de la Plata gebaut worden waren? Dort wo sie von den Menschen gesehen wurden? Nirgendwo sonst in dieser unendlichen Steppe hatten wir welche gesehen, nur hier.

Unsere Füße rebellierten langsam gegen die neuen Schuhe. Die Bedingungen waren zum Einlaufen einfach nicht ideal. Zu heiß, zu lang und keine Möglichkeit, eine Pause zu machen. Bei Heiko waren es vor allem die Zehen, die sich über den geringen Platz beschwerten. Bei mir war es die rechte Ferse, die nicht länger gegen das Leder reiben wollte. Mit immer wechselnden Schürtechniken und prophylaktischen Blasenpflastern versuchten wir die Lage in den Griff zu bekommen. Es gelang mäßig. Immer mehr sehnten wir uns nach einem Etappenziel, doch es wollte und wollte keines kommen. Doch plötzlich veränderte sich das Landschaftsbild. Vor uns tauchte ein riesiger See auf. Auch wenn wir wussten, dass er sich hier befand, konnten wir es trotzdem kaum glauben, dass sich hier so ein Wasserreservat befinden konnte. Noch erstaunlicher war jedoch, dass der See komplett unbesiedelt war.

Es gab keine Stadt, nicht einmal ein Dort und auch keine landwirtschaftlichen Flächen. Nicht einmal die Natur selbst schien zu merken, dass es hier Wasser gab, denn auch die Vegetation änderte sich kein bisschen. Bis hinunter zum Ufer gab es keinen Baum und keine grüne Pflanze, die sich das Wasser zu Nutze machte. Das was dem Menschen zu diesem See einfiel war, eine Autobahn daran entlang zu bauen und die Flüsse, die aus dem See herausflossen mit gigantischen Brücken zu überqueren. Zwei der Brücken befanden sich noch im Bau. Ihre Konstruktion war so unvorstellbar, dass wir nicht nachvollziehen konnten, wie sie funktionieren sollte. Schaut euch die Fotos dazu einmal an. Es sind riesige Konstruktionen und dennoch wirken sie wie Kartenhäuser.

Nach weiteren 7 Kilometern erreichten wir ein einsames Pilgerhostel. Es befand sich direkt an der Straße und schien unsere einzige Option zu sein. Die Leiterin des Hostels erwies sich jedoch als unangenehme Hexe, die uns ohne wirklich zuzuhören abblitzen ließ. Auch einen Platz in der Garage wollte sie uns nicht anbieten und meinte stattdessen, dass wir doch einfach in dem kleinen Holzunterstand oben auf dem Berg übernachten könnten. Dass wir die Hütte mit unseren Wagen unmöglich erreichen konnten, war ihr egal. Wir konnten gut nachvollziehen, dass sie es als junge Herberge in dieser Gegend nicht leicht hatten, doch warum sie Pilger mit so einer Vehemenz vertreiben wollte, verstanden wir nicht. Zum Glück war es nicht unsere einzige Option. Etwas unterhalb der Straße gab es noch eine weitere Herberge und hier trafen wir auf einen wirklich freundlichen und herzlichen Menschen.

Als ich ihm von unserer Geschichte erzählte meinte er: „Ich denke, das sollte kein Problem sein, aber lass uns das draußen besprechen!Hier drinnen darf man nämlich nicht Rauchen und wenn meine Frau das merkt, dann bin ich am Arsch!“ Die Kippe hatte er bereits im Mund gehabt, als ich die Herberge betreten hatte, doch bis zu meiner Ankunft hatte er sich verstecken können. Wir lachten beide und unterhielten uns im Freien weiter. Drei Minuten später hatten wir einen Platz für die Nacht. Zwar war auch dies eine Herberge, doch hier gab es Viererzimmer mit verschließbaren Türen und die Badezimmer waren gegenüber auf dem Gang. Da es kein Dorf gab, blieben uns auch die Kirchenglocken erspart und man hatte eine wunderbare Aussicht über den See. Außerdem waren wir heute eh die einzigen Gäste und hatten daher alle Ruhe die wir uns wünschten.

Spruch des Tages: Hier hat der Survivalexperte seinen Meister gefunden.

 

Höhenmeter: 120 m

Tagesetappe: 26 km

Gesamtstrecke: 4109,97 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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