Brennnesseltherapie

von Heiko Gärtner
07.09.2016 03:21 Uhr

07.08.2016

Am nächsten Morgen stand unsere Herbergsleiterin pünktlich auf der Matte und versorgte uns mit frisch gebratenem Speck und Rühreiern. Nun lernten wir auch den Pfarrer kennen, der ein unglaublich schlechtes Gewissen hatte, weil er am Vortag nicht erreichbar gewesen war. Auch er wollte nun unbedingt noch etwas zu unserem Wohle beitragen und machte sich sofort auf die Socken, um uns Lunchpakete und Nüsschen zu besorgen.

Nachdem wir den Ort verlassen hatten, kamen wir wieder auf einen Feldweg. Dieses Mal bestand er jedoch nicht aus Schlamm, sondern aus feinem, trockenen Sand. Hier zu wandern war das gleiche, als wenn man mitten durch eine Wüste lief, oder als wenn man den Pilgerwagen durch einen 5km langen Sandkasten zog. Damit hatten wir in diesem Jahr nun so ziemlich alle unmöglichen Wanderuntergründe beisammen, die man sich vorstellen konnte. Doch die Natur belohnte unsere Anstrengung. Etwa auf der Hälfte der Strecke stand plötzlich ein grasendes Reh vor uns, nur wenige Meter von uns entfernt. Es ließ uns sogar noch ein kleines Stück näher kommen, bevor es dann im Unterholz verschwand.

Wenige Meter weiter fanden wir einen geeigneten Platz für die Sanktion. Inzwischen war schon wieder einiges zusammengekommen und so standen 17 Minuten Brennnesseln, 6 Klatscher mit der Flachen Hand und 50 Ruten Hiebe auf dem Plan. Am meisten Angst machten mir dabei die Brennnesseln, da ich noch immer die Nachwirkungen des letzten Mals spürte. Dieses Mal hatte ich so eine Angst davor, es nicht durchstehen zu können, dass ich bereits zu heulen begann, noch während ich die Brennnesseln erntete. Ein tiefes Gefühl der Verzweiflung machte sich in mir breit und übermannte mich vollkommen. Als die Sanktion dann begann, durchlief ich immer und immer wieder die gleiche Gefühlskette, die ich dieses Mal stärker wahrnahm als je zuvor. Es begann immer mit dem Gefühl, dass ich stark bin und es locker schaffen kann. Mein Ego wollte einfach der dicke Macker sein und begann mit einer gnadenlosen Selbstüberschätzung. Dabei war ich jedoch nicht offen. Ich wollte den Schmerz nicht fühlen oder annehmen, sondern mich ihm widersetzen und ihn Blocken. Der Gedanke dahinter war: Ich bin ein harter Einzelkämpfer und ich werde die Welt besiegen!"

Es reichten jedoch schon wenige Hiebe und das brennende Gefühl des Brennnesselgiftes in meiner Haut, um diese Illusion zu zerstören. Sofort schlug das Gefühl ins Gegenteil um. aus der Selbstüberschätzung wurde nun Verzweiflung. "Ich werde es niemals packen! Ich bin ein nichts, ein niemand! Ich halte nichts aus, ich werde mich niemals entwickeln ..." Nun kamen all die Selbstzweifel und mit ihr auch die Selbstverurteilungen hoch. Je präsenter sie wurden, desto stärker wurde dann das Gefühl von Trauer, das mich übermannte. Ich begann zu weinen und zu schluchzen und die Tränen liefen mir in Strömen über das Gesicht. Als ich jedoch merkte, dass mir diese Trauer über meine eigene Schwächlichkeit nicht aus der Situation befreien konnte, schlug sie in Wut und Hass um. Die Tränen versiegten und ich begann zu verkrampfen und laut zu brüllen.

In dieser Hassphase wollte ich mich eigentlich gegen jeden Schmerz und jede Beeinflussung von außen auflehnen, doch ich wurde dabei so blind und unkonzentriert, dass ich nun überhaupt nichts mehr ausrichten konnte. Diese Hassphase hätte eigentlich meine Rebellenphase sein sollen, doch stattdessen krampfte sich mein Körper zusammen, wie bei einem Embryo und ich stand nur noch regungslos da und ließ alles über mich ergehen. Dabei kam wieder die Überzeugung auf, als harter Kämpfer allein gegen die Welt bestehen zu müssen und zu können. "Ich halte es durch! Ich bin hart und stark!" Schrieh mir mein Ego wieder entgegen und damit begann die Gefühlskette von neuem. Es folgte abermals der Zusammenbruch und die Verzweiflung, die dann in Trauer und schließlich wieder in Wut umschlug.

Als die 17 Minuten vorbei waren riss ich meine Arme in die Höhe und jubelte, so als hätte ich gerade wirklich eine Todesgefahr überstanden. Es waren lächerliche Brennnesseln gewesen, die man früher auf die gleiche Weise zu verschiedenen Therapiezwecken eingesetzt hatte und doch fühlte es sich für mich so an, als wäre ich dem Tod von der Schippe gesprungen. Nun kamen noch die fünfzig Ruten Hiebe, bei denen ich die gleiche Gefühlskette noch einmal im Zeitraffer durchlebte. Spannend dabei war, dass die Hiebe alle nicht stark waren und für sich genommen auch nur wenig Schmerz verursacht hätten. Dennoch waren sie für mich kaum aushaltbar und das nicht wegen der Schläge selbst, sondern rein wegen meiner immensen Angst vor ihnen. Die Angst führte dazu, dass mein Körper sofort die Wassereinlagerungen in die betroffenen Stellen jagte, so dass sie hart wie beton wurden. Schon wieder war es die gleiche Reaktion, wie bei der Wut. Ich wollte abblocken und einen Schutzpanzer um mich herum aufbauen, hinter dem ich mich verstecken konnte. Auch hier passierte also nun auf der körperlichen Ebene das gleiche, das ich schon mein Leben lang auf der seelischen und emotionalen Ebene durchziehe.

Baue eine Mauer um dich auf und warte regungslos, bis die Situation vorbei ist. Es wird schon alles gut werden. So sehr mir die Aktion im Voraus auch Angst gemacht hat und so sehr ich mich noch immer vor den Sanktionen fürchte, so sehr merkte ich aber auch, dass ich durch sie mehr über mich selbst lerne, als je zuvor in meinem Leben. Und zum ersten Mal überhaupt spürte ich nun eine tiefe Dankbarkeit und eine echte Zuneigung. Ich weiß, das mag für einen Außenstehenden komisch klingen, aber zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, wirklich in den Arm genommen werden zu wollen. Nicht von meinem Ego aus und nicht, um damit etwas zu erreichen, sondern einfach nur der Umarmung willen. Aufgrund des vielen Angstschweißes, den ich ausgesondert hatte und der einen äußerst markanten, süßlich dumpfen Geruch hatte, war die Situation für Heiko nicht ganz so angenehm, aber er tat mir den Gefallen dennoch. Zum ersten Mal spürte ich ein tiefes Gefühl der Verbundenheit und konnte einfach nur loslassen und mich fallen lassen.

Im Nachhinein wurde mir nun auch noch einmal die Wichtigkeit der Brennesseltherapie und vor allem ihrer Folgen bewusst. Das Jucken und Brennen, die Hitzeflashs und die Kälteattacken waren etwas, vor dem ich mich nicht drücken und vor dem ich nicht fliehen konnte. Weder das Wandern noch das Ankommen, noch ein Essen, eine Dusche oder sonst etwas machten es besser. Es war wie es war und damit musste ich nun zurecht kommen. Einen besseren Mentor in Sachen "Annehmen des Ist-Zustandes" konnte ich also kaum finden.

Das bedeutet natürlich nicht, dass mir das jetzt auch gelang. Hin und wieder klappte es recht gut, aber die meiste Zeit befand ich mich dabei vollkommen an der Verzweiflungsgrenze. Zum ersten Mal bekam ich ein Gefühl dafür, was es bedeuten musste, wenn man sich diese Zustände nicht freiwillig und bewusst auswählte, sondern durch das höhere Selbst direkt geschenkt bekam. Heikos Tinnitus war für ihn eine weitaus härtere Sanktion als die Brennesselfolgen für mich, und er lebte damit schon seit vielen Jahren. Gleichzeitig erkannte ich auch, dass die Reaktionen auf die Brennnesseln ein Zeichen dafür waren, dass meine unterschwelligen, hängenden Konflikte nun in die aktive Konfliktphase gebracht wurden. Zuvor hatte ich immer alles unter den Teppich gekehrt, so dass ich es nicht fühlen musste, so dass aber auch nichts heilen konnte. Nun kam es zum ersten Mal zu wirklichen Heilungserfolgen, die eben auch mit Unannehmlichkeiten und Leid verbunden waren.

Als wir den nächsten Ort erreichten, kamen wir zunächst wieder durch eine Siedlung der sinti und Roma. Einige Jungs standen auf der Straße und einer von ihnen quatschte uns sofort an und begann uns zu folgen. Er war kein angenehmer Zeitgenosse und hatte keine Ahnung davon, wie man ein Gespräch so führte, dass sich der andere nicht von ihm belästigt fühlte, doch wir erkannten, dass seine Neugierde echt war. Die Art, mit der er seine Fragen stellte, war vollkommen daneben, aber die Fragen selbst waren ernst gemeint. Es interessierte ihn, wie man so unterwegs sein konnte und er fragte sich, wie auch er aus seinem Käfig ausbrechen konnte.

 

Als wir an der Kirche eintrafen, kamen wir gerade pünktlich zum Ende eines großen Kirchenfestes. Dies hatte den Vorteil, dass ausreichend Menschen anwesend waren, die Deutsch und Englisch sprachen. Innerhalb von Minuten hatten wir einen Platz in einem Nebengebäude und wurden dann sogar wieder zum Essen eingeladen. Die Frauen der Gemeinde hatten für das Fest ordentlich aufgekocht und wir durften nun von allem etwas probieren.

Spruch des Tages: Das muss brennen!

Höhenmeter: 390 m Tagesetappe: 18 km Gesamtstrecke: 17.405,27 km Wetter: bedeckt, nachmittags und abends heftiges Gewitter Etappenziel: Nonnenkloster, Tylicz, Polen

Hier könnt ihr uns und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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