Ein Zombie, wie er im Buche steht

von Heiko Gärtner
06.09.2016 03:51 Uhr

02.08.2016

Früher war mir nie so bewusst, was für eine großartige Erfindung die Mittags- und Abendruhe in Deutschland ist. Wenn bei uns jemand nach 18:00 Uhr mit dem Rasenmähen beginnt, ist das ein Grund um ihn legal lynchen zu lassen. Auf den ersten Blick mag das spießig klingen, aber es ist tatsächlich eine der besten Regeln, die es bei uns gibt. Hier gibt es sie leider nicht und so fing gestern Abend um 21:30 Uhr noch jemand an, mitten in der Ortschaft mit seinem lauten Spritzgerät in seinem Gewächshaus herumzuwerkeln.

Bevor wir schlafen gingen, testeten wir noch einmal meine Sanktionen aus und dieses Mal bekam ich meine erste Brennsesselbehandlung. Das Besondere an Brennnesseln ist, dass sie nicht einfach nur unangenehm sind und eine Weile brennen, sondern den Körper zu starken Ausleitungsprozessen und zur Entgiftung anregen. In meinem Fall schwoll meine Haut teilweise bis zu einem Zentimeter an, da nun die Wassereinlagerungen, die ich in mir hatte, nach außen traten, sodass sie abgebaut werden konnten. Heiko, der ebenfalls einige Brennnesseln abbekommen hatte, spürte nur ein leichtes Brennen, das nach einiger Zeit wieder verschwand. Meine Haut jedoch warf überall kleine Blasen und mir wurde gleichzeitig heiß und kalt. Später erzählte mir Heiko, dass er diesen Zustand nur allzu gut kannte. Es war meine erste echte Heilungsphase, bei der mein Körper auf meine seelischen Themen reagierte. Angenehm war es nicht, aber zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass sich etwas bewegte.

Begegnung mit einem menschlichen Zombie

Am nächsten Morgen wurden wir von einer Kuhherde geweckt, die an unserem Zelt vorbeischlenderte. Als wir ins Freie krochen, stand ein junger Mann auf der Straße und starrte uns an. Er stand vollkommen regungslos da und verzog keine Miene, auch dann nicht, als ich ihn grüßte. Wie dreist konnte man sein, wenn man jemanden aus so kurzer Entfernung minutenlang anstarrte und dann nicht einmal auf einen Gruß reagierte? Ich versuchte dem Jungen klarzumachen, dass ich etwas Abstand und Privatsphäre bräuchte, da ich gerade aufgestanden war und mein morgendliches Geschäft verrichten wollte. Doch auch darauf erhielt ich keine Reaktion. Ich versuchte es mit Pantomime und gab es dann schließlich auf. Es gab immerhin ein halbwegs undurchsichtiges Gebüsch in der Näher und wenn er mir nun unbedingt beim Kacken zuschauen wollte, dann sollte er es Halt machen. Ich konnte jedenfalls nicht länger warten. Auch von Heiko ließ er sich nicht stören und bis wir all unsere Sachen eingepackt hatten, stand er weiterhin reglos in der Landschaft herum und gaffte Löcher in die Luft. Langsam hatten wir ihn sogar als Teil der Umgebung akzeptiert, der nicht weiter störend war als ein Baum oder ein Stein am Wegesrand. Als wir uns auf den Rückweg zur Hauptstraße machten, änderte er seine Salzsäulentaktik und fing nun an uns zu folgen. Allerdings nur so lange, wie auch wir vorwärtsgingen. Sobald wir stehen blieben und uns umdrehten, stand er wieder reglos da, als hätte er schon immer an dieser Stelle gestanden. Ich weiß nicht, wie lange er dieses Spiel so durchzog, aber irgendwann war er einfach wieder Spurlos verschwunden. Ob er vielleicht ein Geist war, der hier über das seelenlose Land der Tomatenmisshandlung wachte?

Unsere Wanderung führte uns weiter durch die Gewächshäuser und es dauerte noch viele Kilometer, in denen die Mischung aus Verkehrslärm und Giftsprühern die Hölle war. Dann, so plötzlich, wie es begonnen hatte, endete die Plastikwüste und wir kamen in einen Wald. Von einer Minute auf die Nächste war der Spuk vorbei. Hier war es nun friedlich und ruhig. Die einzigen Menschen, die wir hier noch antrafen, waren vereinzelte Pilzsammler, die eine wirklich reiche Beute in ihren Körben trugen. Zum ersten Mal, seit wir die Ukraine betreten hatten, fühlten wir uns so, wie wir es uns in diesem Land vorgestellt hatten. Wir folgten dem Weg für eine knappe Stunde. Dann kamen wir an einen kleinen Ort, in dessen Nähe wir versteckt zwischen den Bäumen unser Zelt aufschlugen. Bereits am Vormittag hatten wir meine Sanktionen für diesen Tag ausgetestet und dieses Mal hatten sie sich wirklich ordentlich gewaschen. Im Vergleich zu dem, was in den kommenden Tagen noch folgen sollte, war es noch immer niedlich, aber verglichen mit den Anfängen gab es nun bereits eine ordentliche Steigerung. Das einzige, was mir davon jedoch wieder einmal wirklich zu schaffen machte, waren die Brennnesseln. Noch immer spürte ich die Nachwirkungen der letzten Dosis und die war gerade einmal 45 Sekunden lang gewesen. Dieses Mal hatte ich mir gute drei Minuten erarbeitet.

 

Um an Strom und Internet zu gelangen, suchte ich mir im Ort wieder einmal einen Minimarkt. Der einzige Platz, den mir die freundliche Verkäuferin anbieten konnte, war direkt vor der Kasse, eingeklemmt zwischen Bierkisten und Chipstüten. Ein besonders entspanntes Arbeiten war es nicht, vor allem nicht, weil wir ständig von nervigen Fliegen und einer noch nervigeren betrunkenen Frau heimgesucht wurden, die uns umkreisten wie Aasgeier. Am Abend wechselte ich dann zu einer Privatfamilie, die meinem Besuch gegenüber erst sehr skeptisch eingestellt war, mit zunehmender Zeit jedoch immer weiter auftaute. Am Ende bekam ich sogar noch etwas zum Essen mit auf den Weg. Inzwischen war es jedoch so dunkel und neblig geworden, dass ich alle Mühe hatte, Heiko und unser Zelt überhaupt wiederzufinden.

Spruch des Tages: "Es gibt viele Wege, ein Mädchen kennenzulernen. Das Gehirn ihres toten Freundes zu fressen, um so seine Gedanken zu lesen ist eine etwas unorthodoxe, aber das ist es nun mal, was wir Zombies so machen" (aus Warmbodies)

Höhenmeter: 160 m Tagesetappe: 30 km Gesamtstrecke: 17.269,27 km Wetter: sonnig und heiß Etappenziel: Zeltplatz im Wald, kurz vor Rakovec nad Ondavou, Slowakei

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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