Freche Tierchen

von Heiko Gärtner
08.01.2018 18:32 Uhr

22.07.2017

Mit kleinen Schritten und großen Etappen nähern wir uns dem Ende unserer Zeit in Schottland. Es wird sicher kein Land sein, dem wir lange nachtrauern, wenngleich es uns immer wieder mit versteckten Schönheiten und unerwarteten Begegnungen überrascht hat. Im Großen und Ganzen wird es uns aber wohl dennoch als das wohl anstrengendste und ungemütlichste Land unserer Reise in Erinnerung bleiben. Kein anderes Land hat uns so viel Regen, so lange Tagesetappen und so viel Verkehrshölle eingebracht, wie dieses. Und das obwohl es zu mehr als 90% vollkommen unbewohnt ist.

Schafswiese in Schottland

Schafswiese in Schottland

Unbewohnt und unbewohnbar

Ich glaube, genau hier liegt auch der große Irrtum, dem wir unterlegen sind, als man uns von einem fast menschenleeren Land voller Berge und unberührter Natur erzählt hat. Wir hatten geglaubt, dass man das Land hier einfach in Ruhe sich selbst überlassen hatte, um sich noch einen Rest Wildnis in Europa zu erhalten. Das war natürlich mehr als nur ein bisschen Naiv gewesen. Es liegt nun einmal nicht in der Natur unserer Gesellschaft, sich auch nur einen Fingerzeig aus der Natur zu machen. Wenn also ein Gebiet unbesiedelt ist, dann nicht um es zu schützen, sondern weil man es nicht besiedeln konnte. Schottland zeigt das noch einmal par excellance. Alles, was nördlich von Glasgow und Edinburgh liegt, besteht zu rund 95% aus steilen Berghängen, Moor, Fels oder See. Wenn es irgendwo eine Möglichkeit gab eine Straße oder eine Stadt zu bauen, dann wurde sie auch genutzt. Zu sagen, im Norden von Schottland leben nur 3% der Gesamtbevölkerung von Großbritannien mag schon stimmen, doch es sagt nichts über die Bevölkerungsdichte aus. Der Teil des Landes, der Zugänglich ist, ist auch besiedelt und in permanenter Benutzung. Und sei es nur, um spazieren zu fahren, weil man vor Langeweile bei dem schlechten Wetter sonst nichts mit sich anzufangen weiß.

Bergdorf - Nur wenige Bereiche von Schottland sind bewohnbar

Nur wenige Bereiche von Schottland sind bewohnbar

Schade ist hingegen vor allem, dass es in den unbesiedelten und unzugänglichen Bereichen nicht einmal durchgängige Wege gibt. Gäbe es hier, wie es in den meisten anderen Ländern der Fall ist, ausgebaute Fahrrad- und Wanderwege, wäre das Land ein Paradies für Fuß- und Radreisende. So ist es leider fast nicht begehbar. Und doch wirbt die Schottische Tourismusindustrie genau mit dieser unberührten Natur. Wo immer es nicht ausdrücklich verboten ist, sei man eingeladen, wild zu zelten, zu wandern, mit dem Rad zu fahren, zu klettern und die Natur zu genießen. Nett gesagt in einem Land, in dem jeder Weg eingezäunt ist und in dem man selbst wenn man vom Weg abgehen könnte, bereits nach wenigen Metern im Moor versänke.

Große Bereiche von Schottland bestehen aus Sümpfen, Mooren und Meeren.

Große Bereiche von Schottland bestehen aus Sümpfen, Mooren und Meeren.

„Come and enjoy our spectacular wildlive!“ hieß es auf einem Flyer: „Kommen Sie um die spektakulären Lebewesen unserer Wildnis zu genießen!“ Große Worte dafür dass man jedes Mal einen Luftsprung macht, wenn man auch nur ein Eichhörnchen sieht.

Ein Mauswiesel zu Besuch

Spektakulär ist hier also wirklich nicht das richtige Wort, aber dennoch hatten wir in den letzten Tagen einige sehr schöne Tierbegegnungen, auch wenn die Tiere dabei vielleicht nicht ganz so wild wirkten. Vor knapp einer Woche wurden wir ein gutes Stück unseres Weges von einem Mauswiesel begleitet. Der kleine, drollige Zeitgenosse spitzte vorsichtig hinter einem Grasbüschel hervor und beobachtete, wie wir näher in seine Richtung kamen. Dann huschte er kurz in Deckung, kam aber gleich wieder hervor und lief mit einem Abstand von nur zweieinhalb Metern vor uns auf dem Weg entlang. Dieses Spiel wiederholte er drei oder vier mal, bis er schließlich doch im Dickicht verschwand.

Kurz taucht ein kleines Wiesel auf.

Kurz taucht ein kleines Wiesel auf.

Perfekte Performance

Fast die gleiche Situation erlebten wir kurz darauf mit einem Eichhörnchen. Dieses bescherte uns jedoch am Ende zur Feier seines Besuches noch ein großes und tatsächlich spektakuläres Finale. Wie ein Parcoursläufer sprang es vom Boden über einen Stein auf einen Zaun und lief dann über diesen hinweg, bis zu einer Baumgruppe. Wenn man nur auf den kleinen Akrobaten achtete, konnte man meinen, der Zaun sei eine durchgängige Straße, auf der man einfach entlang rennen konnte. Stattdessen aber gab es nur einzelne, ungleich verteilte Pfähle und Säulen, mit zum Teil sehr großem Abstand. Das Eichhörnchen sprang von einem zum nächsten, wirkte dabei aber nicht als würde es springen, sondern viel mehr als glitt es durch die Luft in einer einzigen, fließenden Bewegung. Es wurde weder schneller noch langsamer, wenn es einen Pfahl unter den Füßen hatte und in seinem kompletten Bewegungsablauf gab es keine einzige abrupte Richtungsänderung. Es war eine Performence, die er zur Perfektion ausgearbeitet hatte und die in ihrer Eleganz, ihrer Leichtigkeit und ihrer Ästhetik alles übertraf, was ein Mensch je zustande bringen könnte.

Sportliches Eichhörnchen

Sportliches Eichhörnchen

Erste Flugstunden

Auch mit unseren gefiederten Freunden hatten wir einige unvergessliche Momente. Zugegeben, im Großen und Ganzen waren wir hier nicht allzu gut auf sie zu sprechen, da die Angewohnheit der Einheimischen, den Singvögeln das ganze Jahr über unessbar viel Futter in den Garten zu hängen, vielerorts zu regelrechten Singvogelplagen führt. So schön der Gesang eines einzelnen Vogels auch ist, so grauenhaft ist das Geschnatter einer unnatürlichen Überpopulation von Wesen, die keine natürlichen Feinde mehr haben und sich daher auch an keine Regeln mehr halten müssen. Nichts desto trotz haben wir uns mit zwei kleinen Vertretern der Schnatterwesen etwas tiefer angefreundet.

Fotograf mit kleinem Findelkueken

Fotograf mit kleinem Findelkueken

Den ersten entdeckte Heiko vor einer Kirche, als er gerade nach einem versteckten Pinkelplatz suchte. Es war ein Jungvogel, der gerade versuchte flügge zu werden, sich bei den ersten Flugstunden jedoch selbst ein klein wenig überschätzt hatte. Nun saß er verloren am Boden herum und wusste nicht mehr, wohin er wollte. Behutsam hob Heiko ihn auf und nahm in mit auf den Kirchenvorplatz, von wo aus man die Umgebung am besten einsehen konnte. Wir schauten uns nach einem Nest oder eine aufgeregt suchenden Mutter um, konnten aber zunächst nichts ausfindig machen. Dafür erkannte der kleine Bruchpilot sein Heimatgefilde nun offenbar wieder, denn er fasste neuen Mut, wurde sichtlich munterer und aktiver und startete schließlich einen neuen Flugversuch. Die Höhe von Heikos Hand machte ihm das Starten dabei um einiges leichter, da er nun erst einmal gleiten konnte und nicht gleich einen Senkrechtstart hinlegen musste. Dennoch überschätzte er seine Wendigkeit ein bisschen, was um ein Haar zu einem Zusammenstoß mit einem Grabstein führte. In letzter Sekunde konnte er das Steuer herumreißen und in Richtung eines weiteren Steines ausweichen, den er ebenfalls nur knapp verfehlte. Dann bekam er die Kurve und steuerte auf ein Gebüsch zu, in dem sich sein Nest befand.

Der Nestling ist erschöpft von seinen ersten Flugstunden

Der Nestling ist erschöpft von seinen ersten Flugstunden

Von Schüchternheit keine Spur

Die zweite außergewöhnliche Begegnung hatte Heiko als er das letzte Mal an einer Bushaltestelle auf mich wartete, während ich nach einem Schlafplatz suchte. Wie immer war es kalt und regnerisch, weshalb sich Heiko so gut wie möglich in einer Ecke zusammengekauert hatte. Plötzlich kam ein kleiner Spatz angehüpft und wanderte vor ihm am Boden der Bushaltestelle herum. Zunächst blieb Heiko reglos, um ihn nicht zu verschrecken, doch nach einer Weile merkte er, dass dies nicht nötig war. Der Kleine hatte keinerlei Angst sondern war im Gegenteil so neugierig, dass er sogar auf Heikos Füße sprang. Dann untersuchte er unseren Wagen und entdeckte dabei einige Nüsschen und ein paar Brotkrümel, die er sich stibitzte.

Kleiner frecher Vogel

Kleiner frecher Vogelx

Als ich von meiner Suche zurückkehrte, ging er nur für ein paar Sekunden in Deckung. Dann tauchte er wieder auf und machte weiter wie bisher. Zu Zweit schienen wir nun sogar fast noch ein bisschen interessanter zu sein, als zuvor.

Mehr Kraft als man selbst glaubte

Trotz des unerwarteten Zwischenstopps den wir im Caravan-Park einlegen konnten, betrug die Etappe heute wieder 25km. Straße und Wetter führten dabei permanent auf und ab und so war es wieder einmal nach vier Uhr am Nachmittag, als wir unseren Zielort Tarbert erreichten. Früher musste das Dorf einmal ein hübsches Fischerdorf gewesen sein,. Heute jedoch machte es einen heruntergekommenderen Eindruck, als einige der ärmsten Städte in Bosnien. Um so mehr freuten wir uns, dass wir dennoch sofort einen Schlafplatz in der freien Kirch bekamen. Der Pfarrer war ein sympathischer Teddybär, dem man ohne zu Zögern sein Herz anvertrauen würde.

Der Fischerhafen

Der Fischerhafen

Er lud uns auf eine Portion Fish and Chips ein und wir kamen ein wenig ins Gespräch. Er war lange Zeit als Krankenhausseelsorger tätig gewesen und so fiel unser Gesprächsthema recht schnell auf die Verbindung zwischen Körper und Seele in Bezug auf Heilung. Nachdem man aus irgendeinem Grund den Menschen in seine Seele und seinen Körper aufgespalten hatte, um den einen Teil zum Arzt und den anderen zum Pfarrer zu schicken, gab es nun auch in Schottland eine Bewegung, die das ganzheitliche Heilen eines Menschen im Fokus hatte.

Boote und Kutter

Boote und Kutter

So richtig konnte sich die Schulmedizin auch hier noch nicht damit anfreunden, aber die Stimmen wurden lauter es ließ sich kaum mehr vermeiden in diesem Bereich für Neuerungen zu sorgen. Der Pfarrer selbst war als Krankenhausseelsorger Teil dieses neuen Konzepts, denn er kümmerte sich nun um die seelischen Belange der Krankenhauspatienten. Dabei erzählte er uns von einer Schlüsselbegegnung, die er mit einem todkranken Mann auf einer Palliativ-Station hatte. Der Mann war mit seinen Nerven am Ende, da er wusste, dass er sterben würde, dies aber nicht akzeptieren konnte. Der Pfarrer hörte ihm zu und da der Mann einen christlichen Glauben hatte, konnte er ihm zudem Trost und Hoffnung mit seinen Worten spenden. Dann passierte etwas seltsames. Der Mann hatte eine Art Zusammenbruch und war für einige Minuten wie weggetreten. Als er wieder zu sich kam, wirkte er ruhiger und seltsam verändert. Er konnte es selbst nicht genau erklären, doch er hatte während seiner Ohnmacht eine Begegnung gehabt. Jemand war bei ihm gewesen um ihm die Kraft zu geben, die er für die nächsten Schritte seines Weges benötigte.

Spiegelung im Meer

Spiegelung im Meer

„Ich war damals vollkommen perplex!“ erzählte der Pfarrer, „Ich weiß, das klingt komisch, weil ich Pfarrer bin, aber bis zu diesem Moment hätte ich nie geglaubt, dass so etwas wirklich funktioniert. Ich meine, ich gebe den Menschen natürlich Trost und Hoffnung, wenn sie es brauchen und ich versuche auch, ihren Glauben zu stärken, aber daran dass man auf diese Weise auch heilen kann, hätte ich nie geglaubt. Trotzdem ging es dem Mann plötzlich besser und das sogar nachhaltig. Die Ärzte hatten ihm nur noch ein paar Tage gegeben, aber er erholte sich so sehr, dass er noch über ein Jahr weiter lebte. Und das in besserer Verfassung als die Jahre zuvor. Ich denke oft an diese Situation zurück und kann mir noch immer nicht genau erklären, was da passiert ist. Ich weiß nur dass da etwas war und ich hoffe, dass ich selbst auch einmal eine solche Erfahrung machen darf!“

Spruch des Tages: Ein schüchternes Kerlchen bist du nicht, oder!?!

Höhenmeter: 150 m

Tagesetappe: 18 km

Gesamtstrecke: 24.692,27 km

Wetter: Sonne, leichte Bewölkung, kaum Wind

Etappenziel: Pfarrhaus, Urlingford, Irland

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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