Tag 974: Die slowakischen Karpaten

von Heiko Gärtner
09.09.2016 22:35 Uhr

18.08.2016

Trotz der langen Wartezeit war der Schlafplatz den wir gestern ergattern konnten, der beste, den wir hätten bekommen können. Nachdem wir ihn heute morgen verlassen hatten, bogen wir um eine Ecke und befanden uns direkt in einer großen und unglaublich schrecklichen Stadt, in der wir auf keinen Fall eine Unterkunft mehr hätten finden können. Die gesamte Umgebung schien nur von einer einzigen Fabrik zu leben. Es war ein riesiger Betrieb, dessen Ziel und Zweck wir nicht ausmachen konnten, doch soweit es sich erkennen ließ, hatte er etwas mit Erdöl und Erdgas, mit Stromgewinnung und mit der Verarbeitung von Unmengen an Holz zu tun. Bereits gestern und vorgestern waren wir immer wieder auf Infrastrukturen gestoßen, die zur Erdöl- und Erdgasverarbeitung dienten. Erst waren wir an einer Raffinerie mit elf riesigen Öllagerbecken vorbeigekommen, von denen jedes rund 800 Millionen Liter Öl umfasste. Dann kamen wir durch einen Wald, in dem überall versteckte Gasförderpumpen montiert waren. Neben einer von ihnen hatten wir dann sogar unser Zelt aufgeschlagen. Alle hatten ausgesehen, als wären sie schon längst nicht mehr in Betrieb, doch am Abend fuhr ein Jeep mit der Aufschrift "Security" an ihnen vorbei und einen knappen Kilometer weiter gab es eine Firma mit den Namen "Nafta", die noch immer vor sich hin werkelte. Auch unsere riesige Holding-Firma, die nun hier die Gegend beherrschte wirkte auf den ersten Blick als sei sie bereits im zweiten Weltkrieg geschlossen worden. Viele der Gebäude waren verfallen und baufällig und einige hatten sogar eingeschlagene Fenster. Ja es gab sogar Balkons auf denen bereits Birken wuchsen. Und doch war die Firma voll in Betrieb. Sie hatte sogar einen eigenen Busbahnhof, auf dem fast minütlich Busse ankamen und massenhaft Menschen ausspuckten, auf das Firmengelände strömten. Die Anwesenheit dieser Firma hatte dafür gesorgt, dass direkt am Fuße des Berges eine Stadt entstanden war, in der sich tausende von Menschen in ungemütlichen Betonklätzen stapelten. Hier gab es nun plötzlich auch wieder große Supermärkte wie Kaufland und Billa, die wir nun bereits seit über einem halben Jahr nicht mehr gesehen hatten. Neugierig nach dieser langen Zeit warfen wir einmal einen Blick hinein und es fühlte sich wirklich ein wenig wie zuhause an. Nur die Musik war in einer schier unerträglichen Lautstärke aufgedreht, so dass man kaum mehr sein eigenes Wort verstand. War dies in Deutschland auch schon so gewesen? Wir konnten uns nicht daran erinnern, aber so ganz ausschließen konnten wir es nun auch nicht mehr.

Das beeindruckendste an der Stadt waren jedoch wieder die Wohnblocks, die von den Sinti und Roma bewohnt wurden. Hier tummelten sich hunderte, wenn nicht tausende von Menschen in einem einzigen Wohnkomplex. Auf nur einer einzigen Etage gab es bereits zehn Menschen zwischen 3 und 90 Jahren, die am Fenster standen und hinaus starrten, als wollten sie die Luft durchlöchern. Vor einem anderen Wohnbunker stand eine Menschentraube von rund fünfzig Personen, die eine Frau umringte, die laut und verzweifelt weinte und schluchtze. Es waren Klagelaute, die keinen Zweifel daran ließen, dass sie gerade einen Menschen verloren hatte, der ihr nahe stand. Direkt neben der Gruppe parkte ein Streifenwagen und zwei Polizisten waren damit beschäftigt, die Anwesenden zu befragen. Alles deutete darauf hin, dass hier vor wenigen Minuten jemand getötet wurde. Wie und warum konnten wir natürlich nicht sagen, doch wenn man bedachte, wie gedrängt die Menschen hier aufeinander lebten, dann wunderte es nicht, wenn es ab und zu einmal zu Ausschreitungen kam, die bis in den Tod führten. Eigentlich wunderte es eher, dass nicht viel mehr passierte, denn es war kaum vorstellhaft, wie man unter solchen Legebatterie-Bedingungen nicht durchdrehen konnte. Die Sintis mochten eine Art haben, die oft unangenehm und abschreckend war, doch sie waren auch gelassene und friedfertige Menschen, mit einer unglaublichen Frustrationstolleranz. Das musste man ihnen lassen.

Wir für unseren Teil waren dennoch heilfroh, als wir die Stadt hinter uns lassen konnten. Dummerweise dauerte es noch mehr als zehn Kilometer, bis der Verkehr wirklich soweit abgenommen hatte, dass wir das Wandern wieder genießen konnten. Dann machten wir eine Picknickpause am Wegesrand und testeten dabei auch mein Sanktionskonto aus. Mit allen Pannen und Macken, mit meiner Zeitverplämperei und mit der sturen undurchdachten Art, nach einem Schlafplatz zu fragen, war ich bereits bei über einer Stunde Brennesseltherapie angelangt. Diese Art der Sanktion wurde also langsam untragbar, denn ich konnte mich ja nicht den ganzen Tag in Brennesseln wälzen. Also münsten wir wir sie auf andere Sanktionen um, die schneller gingen, aber nicht weniger schmerzhaft waren. Auffällig dabei war, dass die Härte, die mein höheres Selbst für Vergehen gegen meinen Herzensweg stätig zu nahm, je mehr mit meine eigene Lebensunfähigkeit bewusst wurde. Auf der einen Seite machte mir dies eine immense Angst und hin und wieder glaubte ich nicht mehr daran, es überhaupt durchstehen zu können. Auf der anderen Seite reichte es aber noch immer nicht aus, um den Schalter in meinem Gehirn umzulegen und etwas zu verändern. Gerade befand ich mich in einem Zustand, in dem ich mich sebst beobachtete, wie ich ununterbrochen Scheiße baute, aber nichts dagegen tun konnte. Es wahrzunehmen war natürlich schon einmal besser als nichts, aber die Frage war dennoch, ob ich es irgendwann einmal auf die Reihe bekommen würde. Letztlich klappte ja fast immer alles, was ich erreichen wollte, ich machte es mir nur immer so schwer wie möglich und langsam war es schon soweit, dass ich damit ruhig einmal aufhören konnte.

Das Tal in das wir eingebogen waren enthielt drei kleinere Ortschaften. Hinter der dritten endete die Straße und von hier auf führte nur noch ein Feldweg weiter in die Berge. Wohin er führt, werden wir aber erst morgen rausfinden, denn heute bekamen wir einen Schlafplatz in der ehemaligen Schule des letzten Ortes. Der Pfarrer, der gerade eine Beerdigung betreut hatte, versorgte uns zwar mit Zwiebeln, Dosenwurst und einer Dusche, wollte uns jedoch keinen Schlafplatz anbieten, weil er sein Gästehaus als zu schmutzig, unaufgeräumt und schäbig empfand. Es war nicht, dass er uns nicht traute oder nicht helfen wollte, er schämte sich einfach so sehr für den Zustand des Gemeindehauses, dass er es niemandem zeigen wollte. Davon ließ er sich auch nicht abbringen. Stattdessen stellte er jedoch den Kontakt zur Bürgermeisterin her, die uns dann den Platz in der Schule anbot. Eine Schule übrigens, die seit Jahrzehnten geschlossen ist und seit dem nicht mehr gesäubert wurde. Egal wie dreckig das Gemeindehaus des Pfarrers auch gewesen sein mochte, schlimmer als dieses Gebäude war es sicher nicht. Doch für unsere Zwecke war es vollkommen ausreichend. Wie auch gestern Nachmittag wurden wir dabei sogar wieder mit einer ordentlichen Portion Gulasch versorgt, die vom Leichenschmaus übrig geblieben war. Wer hätte gedacht, dass wir einmal so sehr von Beerdigungen profitieren würden.

Spruch des Tages: Es gibt doch immer mehr Möglichkeiten als man denkt.

Höhenmeter: 120 m Tagesetappe: 25 km, davon 10 innerhalb des KZs Gesamtstrecke: 17.667,27 km Wetter: überwiegend sonnig und warm Etappenziel: Gemeindezentrum der Saliziani, Auschwitz, Polen

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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