Weltreise im Low Budget Wohnmobil

von Franz Bujor
28.05.2022 07:09 Uhr

Seit dem Sommer 2021 befinde ich mich auf einer Weltreise mit einem Low Budget Wohnmobil, das ich mir selbst aus einem alten LKW aufgebaut habe. Warum ich das mache, wie es zu dieser Entscheidung kam, welche Erfahrungen ich bisher sammeln konnte und was Sir Lanzelot zu all dem sagt, verrate ich euch hier in diesem Gastartikel bei den Lebensabenteurern.

 
Perfekte Aussicht: Mit Allrad Lada Taiga am Abgrund

Perfekte Aussicht: Mit Allrad Lada Taiga am Abgrund.

 

Ein Roadtrip im Low Budget Wohnmobil durch Südeuropa

Alles begann 2016 mit der Frage, wie lange man eigentlich bis nach Barcelona fahren würde. War es nah genug, um einfach mal einen Abstecher dorthin zu machen? Oder war dieser Gedanke utopisch?

Ein Blick auf die Karte brachte die Erkenntnis, dass man mit dem Auto in gerade einmal rund 20 Stunden dort sein würde, und so beschlossen mein Kumpel Michael und ich kurzerhand, mit meinem alten Lada Taiga und einem selbstgebauten Dachzelt einen Roadtrip durch Südeuropa zu machen.

Urlaub mit dem Lada Taiga nach Barcelona

Urlaub mit dem Lada Taiga nach Barcelona.

 

Unser Weg führte uns quer durch Österreich, Liechtenstein, die Schweiz, Frankreich, Andorra und Spanien bis nach Barcelona. Auf dem Rückweg ging es dann entlang der Südküste Frankreichs nach Italien und von dort wieder zurück nach Österreich. Die Reise war voller Abenteuer und machte uns mehr Spaß, als wir uns hätten träumen lassen. Sogar der Lada hielt durch und ließ uns nie im Stich.

Na gut, vielleicht einmal abgesehen von dieser einen Situation, bei der wir für ein paar Stunden in Barcelona am Strand feststeckten. Aber wegen genau solcher Abenteuer waren wir schließlich auch aufgebrochen. Und am Ende ist ja auch alles gut gegangen. Auch wenn viele das vielleicht anders sehen würden, gehört der Lada Taiga für mich seither ganz klar auf die die Liste der besten Geländewagen der Welt.

Nur am Strand kam die Offroad-Tauglichkeit des Lada Taiga einmal an seine Grenzen

Nur am Strand kam die Offroad-Tauglichkeit des Lada Taiga einmal an seine Grenzen.

 

Wo der Plan schiefgeht, fängt das Abenteuer an!

Gestärkt durch dieses positive Erlebnis wussten wir, so etwas müssen wir wieder machen! Das Jahr darauf war der Balkan dran. An der Küste ging es runter bis ans Schwarze Meer und über Moldawien, Polen und Tschechien wieder rauf nach Österreich. Bei dieser Reise war schon etwas mehr Abenteuer dabei, angefangen vom kaputten Kühler über Zündfehler des Motors bis hin zu extremen Offroadpisten bei ebenso extremen Wetter, mitten in der rumänischen Wildnis. Wenn du dann mitten im Nichts bei strömenden Regen dein Auto versenkst und dir dabei auch noch die Seilwinde abbrennt, dann hast du zwei Möglichkeiten. Du kannst entweder total verzweifeln oder dich über die Situation freuen. Das klingt jetzt erst einmal merkwürdig, aber in diesem Moment konnte ich tatsächlich spüren, dass ich diese Entscheidung bewusst treffen musste. Gebe ich mich meinen Gedankenstimmen der Angst hin und verfalle in Panik, oder nehme ich die Herausforderung an und mache mich voller Tatendrang und Entdeckungsfreude auf die Suche nach einer Lösung.

Die Balkan-Reise: Mit dem Lada Taiga durchs Dickicht

Die Balkan-Reise: Mit dem Lada Taiga durchs Dickicht.

 

Ähnlich war es auch bei einer Fahrt durch die Pyrenäen, als uns plötzlich und vollkommen unerwartet die Lichtmaschine verreckte. Zum Glück waren wir vorbereitet und hatten für solche Fälle eine zweite als Ersatz dabei - Nur um dann festzustellen, dass diese ebenfalls nicht funktionierte. Also mussten wir improvisieren. Weil zu allem Überfluss draußen noch ein Unwetter tobte, zogen wir uns auf eine öffentliche Toilette zurück und bauten uns aus einem Gasbrenner und einem Taschenmesser einen MacGyver-Lötkolben, mit dessen Hilfe es uns gelang, die Bürsten so umzulöten, dass wir aus den zwei kaputten Lichtmaschinen eine funktionierende machen konnten.

Mit diesem improvisierten Lötkolben, ...

Mit diesem improvisierten Lötkolben, ...

... konnte der Lada wieder repariert werden.

... konnte der Lada wieder repariert werden.

 

Ich könnte jetzt noch unzählige solcher Situationen schildern, in denen ich vor der gleichen Entscheidung gestanden bin. Aber die Erkenntnis für mich war und ist immer wieder dieselbe:  In diesen Momenten zählt nur das Jetzt, alles Andere, alle Alltagssorgen sind egal. Das hat auch etwas unglaublich befreiendes! Mann muss sich nur um sein Auto und die Situationen kümmern, in die man sich damit bringt. Ob nun gewollt oder manchmal auch nicht.

 

Reisen als Lebenssinn

Es folgten mehrere Roadtrips mit meinem kleinen Low Budget Wohnmobil, zunächst wieder mit Michael, später dann mit Christian, einem anderen Freund. Dabei zog es uns ebenfalls wieder hauptsächlich nach Südeuropa und in den Balkan. Auch beim Pothole Rodeo sind wir zweimal gestartet. Insgesamt bereisten wir auf diese Weise rund 30 verschiedene Länder. Für mich wurde immer mehr klar, dass das für mich der Sinn des Lebens ist. Ich will kein Haus, keinen festen Job und keine zwei Kinder, wie es mir die Gesellschaft vorschreibt. Ich möchte die Freiheit spüren, indem ich einfach überall hin fahren kann, wo ich möchte. Ich will die Welt mit eigenen Augen sehen und fühlen und die Leute, Länder und Kulturen in echt und selbst erleben. Nicht, wie es in Film und Fernsehen gezeigt wird. Ich wusste schon immer, irgendwann mache ich eine Low Budget Weltreise und dafür möchte ich mir den Traum vom Allradwohnmobil erfüllen.

Die Trips in den Folgejahren mit dem Low Budget Mobil wurden noch um einiges abenteuerlicher

Die Trips in den Folgejahren mit dem Low Budget Mobil wurden noch um einiges abenteuerlicher.

 

Low Budget Weltreise mit dem LKW?

Der Lada Taiga wahr aufgrund seiner Einfachheit und Größe ein super Fahrzeug für Offroadtouren, aber für eine Weltreise wäre er mir dann doch zu klein gewesen. Und weil ich keine halben Sachen mache, entschloss ich mich, einen gleich einen richtigen Lkw zu kaufen und nicht erst einen Bus auszubauen. Für mich war es schon lange klar gewesen, dass ich einen Mercedes-Benz 1017 haben möchte. Wie ich das ganze finanzieren sollte, war mir noch unklar, aber ich glaubte an das Gute im Leben und an das Gesetz der Anziehung. Wenn mich das Schicksal in Situationen wie damals im Schlamm in Rumänien nicht im Stich gelassen hatte, dann würde es das auch jetzt nicht tun. Und so wusste ich, es wird alles gut gehen. Ich suchte im Internet schon einige Zeit nach passenden Modellen, doch nachdem der Entschluss einmal fest getroffen war, musste ich nicht mehr lange weiter suchen. Durch einen glücklichen Zufall lernte ich Oliver kennen, der mir mit seiner Erfahrung zu Seite stand. Dank seiner Hilfe war der passenden Lkw schnell gefunden und auch genau das, was ich wollte. Ich glaubte an mein Gefühl und habe den LKW noch in derselben Woche gekauft. 12000 € hatte ich gespart und der LKW kostet mich bereits 9990 €. Da blieb also nicht viel übrig, um ihn auszubauen, außer meiner eigenen Arbeitskraft. Aber ich glaubte dran, dass es schon alles irgendwie funktionieren würde.

Das neue Expeditionsmobil ist einsatzbereit!

Das neue Expeditionsmobil ist einsatzbereit!

 

Ein Expeditionsmobil aus einem LKW bauen

Die Heimreise von Deutschland mit dem LKW war gleich mal ein 16-stündiges Abenteuer, das ich gemeinsam mit meinem alten Freund Christian erlebte. Einen LKW-Führerschein habe ich mit 18 Jahren klugerweise gemacht, aber außer in der Fahrschule bin ich eigentlich mit keinem LKW mehr gefahren...

Nun baue ich seit 2019 an meinem LKW in dem ich seit Juni 2021 auch dauerhaft zusammen mit meinem Kater Sir Lanzelot lebe. Den LKW wahr ursprünglich ein Tanklöschfahrzeug mit Doppelkabine und einem 2500-Liter-Wasser-Tank. Anfangs hieß es zuerst einmal, alles Unnötige muss runter und das Fahrerhaus muss gekürzt werden. Ich bin gelernter Bauspengler und bin der Meinung das jeder alles schaffen kann, wenn er nur wirklich an sich glaubt. Den gesamten Umbau, mit allen anfallenden Arbeiten, über Schweißen bis zu Hydraulik, Tischlerarbeiten, Elektronik und Wasserinstallation, habe ich alles alleine oder gemeinsam mit meinem Vater bewältigt.

Das Expeditionsmobil ist nun permanenter Wohnsitz von Martin und Sir Lanzelot

Das Expeditionsmobil ist nun permanenter Wohnsitz von Martin und Sir Lanzelot.

 

Die Eckdaten zum LKW:

  • Gewicht: 10t
  • Leistung: 170Ps
    Unterwegs mit dem Expeditionsmobil

    Unterwegs mit dem Expeditionsmobil

  • Tankvolumen: 475 l Diesel, 400l Trinkwasser, 120 l Grauwasser, 10 l Warmwasser
  • Heizung: je 2 kW elektrische Standheizung für Fahrerkabine und Koffer + Split Klimaanlage + Holzofen
  • Stromspeicher: 200Ah LiFePo4-Akkus
  • Stromgewinnung: 1000 Wp Solaranlage
  • Ausstattung: Außendusche, Toilette, Trommelwaschmaschine, Bett mit 140 x 200, Couch in U Form 200x140x70, Esstisch für 2 Personen
  • Abmessungen: Koffer innen 2,11 x 4,25 und 2,10 m Stehhöhe.
  • Als Wohnkoffer dient ein Aufbau eines Trockenfrachttransporters.
Expeditionsmobil am Strand

Expeditionsmobil am Strand.

 

Leben im selbst gebauten Low Budget Allrad-Wohnmobil

Ich habe alles selbst geplant und umgesetzt, wobei “geplant” vielleicht etwas viel gesagt ist. Letztlich hatte ich ein paar Skizzen und Berechnungen zu Papier gebracht, und schon ging es los. Wichtig war mir vor allem, dass ich mich in der fertigen Kabine auch wohlfühle, daher wahr für mich klar, keine weißen Hochglanzschränke, sondern alles aus Holz und möglichst naturbelassen. Ich bin mit dem Ergebnis sehr glücklich und fühl mich sehr wohl auf meinen gut 7 m², die ich nun auch schon seit Juni 2021 auch dauerhaft mein Zuhause nenne. Besonders froh bzw. stolz bin ich darauf, dass ich die Dusche und das WC getrennt habe und auch das Bett mit der Seilzug Konstruktion ermöglichte es, eine große Liegefläche und zudem eine gemütliche Couch unterzubringen. So können auch mal 2 - 3 Leute zu Besuch kommen und man findet noch Platz. Ein Blickfang ist bestimmt auch der alte Holzofen, den ich nur durch Zufall geschenkt bekommen habe und der gleich perfekt gepasst hat. Er hatte tatsächlich genau die richtige Größe für den Bereich, den ich dafür freigelassen habe.

Man sieht also, alles fügte sich zusammen, auch wenn man sich nicht zuvor ewig den Kopf darüber zerbricht, sondern einfach nur mit positiver Energie an eine Sache herangeht. Man muss wissen, was man tut und darauf vertrauen können, dass es gelingt, dann wird es einem auch gelingen.

Die Küche im Expeditionsmobil

Die Küche im Expeditionsmobil.

 

Weltreise mit Katze

Zuletzt fügte ich noch ein sehr wichtiges Element zu meinem LKW-Home hinzu: Einen selbstgebauten Kratzbaum für meinen Kater Sir. Lanzelot, der ja auch wie ich zu einem permanenten Bewohner des Expeditionsmobils wurde. Auch er liebt das Reiseleben genauso wie ich und er fühlt sich richtig wohl im LKW. Das war auch schon während des Ausbaus so, wo er natürlich fast immer dabei wahr und  wo er sich bereits in der Roh-Kabine so verhielt, als wäre er hier zuhause. Er lief schnurrend durch die Gegend oder lag auf seiner Decke, vollkommen unbeeindruckt von Stichsäge, Bohrmaschine und Co.

Unterwegs mit Reisekatze Sir Lanzelot

Unterwegs mit Reisekatze Sir Lanzelot.

 

Wie finanziert man eine Weltreise im Low Budget Wohnmobil

Auf meiner Facebook Seite gibt es auch in Kürze eine detaillierte Auflistung aller Kosten und der Arbeitszeit, die ich in das Projekt hineingesteckt habe. Mittlerweile werden es ca. 55000 € sein, inkl. Kaufpreis des LKWs. Wenn ihr mich jetzt fragen würdet, ob ich mir das leisten kann, würde ich sagen nein! Doch wie es aussieht, konnte ich es am Ende doch irgendwie. Auch dafür spielte mir das Leben wieder in die Karten, auf verschiedene Art und Weise. So wechselte ich beispielsweise aus augenscheinlich zufälligen Gründen 2021 die Firma. Ich wusste es bei der Entscheidung nicht, aber es stellte sich heraus, dass ich dadurch einen riesigen Berg an angesammelten Überstunden plötzlich ausgezahlt bekam, die ich sonst nur hätte abbummeln dürfen. Dadurch hatte ich eigentlich immer genug Geld, um den Aufbau voranzutreiben und wenn mal kein Geld da wahr, dann gab es noch immer genug Arbeit, die "nur" Zeit kostete, sodass ich dennoch stets vorankam.

Wohnzimmer im Expeditionsmobil

Wohnzimmer im Expeditionsmobil.

 

Wie ist das Leben im Low Budget Wohnmobil?

Alles in allem bereichert das Wohnen und Reisen in meinem selbstgebauten Low Budget Wohnmobil und dessen Aufbau selbst, mein Leben ungemein. Ich konnte mir damit selbst beweisen, dass ich alles schaffen kann, wenn ich es möchte. Oft werde ich gefragt, ob das Leben im LKW mit wenig Geld nicht ein großer Verzicht auf Luxus und Komfort ist und eine Menge Entbehrungen mit sich bringt. Ich denke, das ist aber vor allem eine Frage der Perspektive. So wie es für einen Bürger aus der österreichischen Mittelschicht “Verzicht und Entbehrung” bedeutet, ist mein Low Budget Wohnmobil an vielen anderen Orten der Welt Hightech und Luxus pur. Ich selbst sehe es eher als eine Befreiung von so vielen alltäglichen Sachen, die rund um ein Haus oder Wohnung anfallen. Ich habe bei meinem Auszug aus der Wohnung nur einen kleinen Teil meiner Kleidung und zwei bis drei Erinnerungsstücke mitgenommen, der Rest liegt seither in der Garage meiner Eltern und wird verkauft oder verschenkt. Oft habe ich den Eindruck, dass ein Mensch umso glücklicher ist, je weniger er besitzt. Auf mich trifft das in jedem Fall zu, denn mit jedem Stück Ballast, das ich loswerden durfte, fühlte ich mich freier. Und wenn man alles, was man besitzt, ständig mit sich führen muss, bekommen die Dinge eine andere Bedeutung. Reichtum bedeutet dann nicht mehr, so viel Kram wie möglich anzusammeln, sondern optimal mit dem zurechtzukommen, was man bei sich hat.

Unterwegs mit Reisekatze Sir Lanzelot

Unterwegs mit Reisekatze Sir Lanzelot

 

Wo führt die Low Budget Weltreise hin?

Was meine Weltreise in dem Low Budget Wohnmobil anbelangt, halte ich es genauso, wie ich es auch schon beim Aufbau gemacht habe. Ich zerbreche mir nicht lange den Kopf mit einer Reiseplanung, sondern fahre dorthin, wo es mich gerade hinzieht. Das bedeutet es für mich, wirklich frei zu sein. Die Welt liegt offen vor mir und wenn ich Lust auf einen Ausflug ans Meer habe, dann fahre ich an irgendeinen schönen Strand. Oder es zieht mich in die Berge, in die Steppe oder wieder mal auf einen Roadtrip durch Europa. Es wird sich zeigen, und wenn ihr es mitverfolgen wollt, dann findet ihr alle Informationen darüber auf meiner Facebook-Seite!

Eine große Landkarte gehört in jedes Weltreise-Expeditionsmobil!

Eine große Landkarte gehört in jedes Weltreise-Expeditionsmobil!

 

Wir sehen uns!

Viel Spaß und Lebensfreude

Martin Strohmer

 

Bildergalerien

Hier bekommt ihr noch ein paar weitere Impressionen von meinen Reisen mit dem Lada Taiga:
Weltreise mit dem Auto

Für eine Weltreise mit dem Auto ist der Lada Taiga dann vielleicht doch etwas zu klein.

  Hier ist noch der Rest meiner Roomtour durch das große Expeditionsmobil:  
Ich liebe meinen Lada Taiga

Eine dicke Umarmung für einen treuen eisegefährten!

 

Andere Weltreisende:

Hier findet ihr noch spannende Artikel von anderen Reisenden, die auf ausgefallene Art unterwegs sind:  

Bildquellen:

© Martin Strohmer  

Fortsetzung von Tag 651:

Jetzt waren wir vollkommen fassungslos. Wie konnte sie das sagen? Wie konnte sie so viel verstanden haben und sich dann trotzdem gegen ihr eigenes Herz entscheiden. Wenn das ihr Wunsch war, dann mussten wir das natürlich akzeptieren, aber begreifen konnten wir es nicht. Ich kam mir vor, als hätte ich seit einem Monat mit einer Wand geredet, ohne zu merken, dass es eine Wand war, die überhaupt nichts von mir hören wollte. In Heiko brach eine ganze Welt zusammen. Ein Jahr lang hatte er sich gemeinsam mit Paulina auf das Leben als Weltreisepaar vorbereitet und nun, wo alles soweit war, dass es wirklich funktionieren konnte, scheiterte es daran, dass Paulina nicht ja dazu sagen konnte. Er war enttäuscht, traurig und fühlte sich so verletzt, dass er nicht anders konnte, als vor Wut überzukochen. Es gab ein riesiges Geschrei zwischen ihm und Paulina und auch wenn ich gerade nicht mehr ganz sicher bin, glaube ich, dass ich auch einiges dazu geschrien habe.

„Tobi, wir packen zusammen und gehen!“ sagte Heiko schließlich mit verbitterter, trauriger Stimme. „Ich kann das nicht! Ich werde nicht zuschauen, wie sie sich selbst umbringt und ich will damit einfach nichts mehr zu tun haben. Paulina, geh deinen Weg, wenn du meinst dass das richtig für dich ist, aber ohne uns. Wir sind weg. Ich werde mich die Nacht hier nicht überfallen lassen, nur weil du nicht zu dir stehen kannst!“

Paulinas Gesicht zeigte vollkommene Verzweiflung und Panik.

„Das könnt ihr nicht machen!“ schrie sie, „Ihr könnt mich hier nicht einfach zurücklassen! Nicht mit diesem Psychopathen im Wald!“

„Doch!“ sagte Heiko ernst, „das können wir! Wir sind nicht deine Eltern. Wir sind nicht für dich verantwortlich und wir sind nicht dafür da, deinen Hals aus der Schlinge zu ziehen, in die du ihn selbst hinein steckst. Es ist noch hell und du kannst einfach zurück in die Stadt gehen um dir dort ein Hotel zu suchen, wenn du hier nicht bleiben willst. Das ist deine Sache! Aber ich werde mir nicht mit anschauen, wie du dein Leben weg wirfst und laut nach einem Vergewaltiger schreist. Es kotzt mich an, dass du nur an dich denkst und dass wir dir vollkommen scheißegal sind. Du kannst nicht zu dir stehen, willst als Opfer einen Täter nach dem nächsten anziehen und wir sollen dafür Verständnis haben. Aber dass du uns damit ebenso in Gefahr bringst, dass ist dir egal. Wir sollen nicht hier bleiben, weil du uns da haben willst, sondern weil wir für dich den Kopf hinhalten sollen, wenn es schief geht. Tut mir leid, aber da mache ich nicht mit. Wenn du gehen willst, dann geh, aber dann geh jetzt gleich!“

Wieder kam es zu wildem, verzweifelten Geschrei, erst von Seiten Paulinas, dann wieder von Heiko, dem der Geduldsfaden riss. Am Ende rannte Paulina einfach weg, mitten in den Wald hinein, in genau die Richtung in die auch unser leicht psychopathischer Freund verschwunden war.

„Was macht sie denn jetzt?“ fragte Heiko vollkommen verwirrt an mich gewandt. Ich konnte jedoch nicht mehr tun, als mit den Schultern zu zucken. Glaubte sie ernsthaft, dass sie das Problem lösen konnte, wenn sie alleine in den Wald rannte? Was sollte das verbessern? Langsam wünschte ich mir doch die Zeiten zurück, in denen ich Sonderschulklassen mit 30 verhaltensgestörten Kindern betreuen musste. Das erschien mir plötzlich bei weitem nicht mehr so anstrengend gewesen zu sein, wie das, was wir jetzt gerade versuchten.

Da eine Lösung her musste machten wir uns auf die Suche nach Paulina, in der Hoffnung, sie wieder zu Vernunft bringen zu können. Doch sie war wie vom Erdboden verschluckt. Es dauerte gut eine halbe Stunde, bis sie wieder aufgetaucht war. Die Zeit hatte gereicht um uns alle wieder etwas zu beruhigen, doch als wir anschließend erneut gemeinsam zwischen den Zelten standen, dauerte es keine fünf Minuten, bis die Gemüter wieder so hoch gekocht waren, dass es zu einem erneuten Ausbricht von Tränen, Schreien, Wut, Angst und Verzweiflung kam. Die ganze Aktion war für das Vorhaben, eine ruhige Nacht hier zu verbringen, natürlich nicht besonders förderlich gewesen. Im Umkreis von 10 Meilen wusste nun jeder dass wir hier waren und dass wir nicht gerade an einem Strang zogen. Der Sonderling oben im Wald lachte sich sicher schon ins Fäustchen.

Und wieder waren wir beim gleichen Muster angelangt, das wir schon so oft durchgespielt hatten. In dem Moment in dem Paulina ihre Entscheidung getroffen hatte, nicht länger Teil der Gruppe sein zu wollen, war es früh genug gewesen um sicher ins nächste Hotel zu gelangen. Natürlich musste sie dabei wieder an den komischen Typen vorbei, die bereits auf dem Hinweg versucht hatten, sie anzumachen. Es war also nicht ganz ungefährlich, aber es war hell und der Weg war nicht besonders weit. Durch das ganze Rumgeschreie, die Weglaufaktion und das ewige Hin und Her war inzwischen jedoch so viel Zeit vergangen, dass es bereits dunkel wurde. Nun war es eindeutig zu spät für alles. Es war zu spät für Paulina um in die Stadt zu gehen und es war zu spät für uns, um uns einen neuen Schlafplatz zu suchen. Gleichzeitig hatten wir alle drei laut „Hier!“ geschrien und unsere Tarnung damit vollkommen zerstört. Oben am Weg zeichneten sich bereits mehrere Schatten von Schaulustigen ab, die uns permanent anstarrten um herauszufinden, was hier wohl los sei.

Irgendwie fingen wir uns wieder und da wir keine andere Wahl hatten, trafen Heiko und ich eine neue Entscheidung. Wir würden die Nacht über hier bleiben und Paulina bekam Zeit um sich zu überlegen ob sie die Entscheidung wirklich so treffen wollte, wie sie es beim Abendessen gesagt hatte. Wenn ja, sollte sie in die Stadt zurück gehen, noch ehe wir am Morgen aufstanden. Wenn nein, dann sollte sie sich ganzen Herzens und in jeder Konsequenz für ihr Nomadensein entscheiden und weiter mit uns mitgehen. Eine andere Möglichkeit sollte es nicht geben. Erst jetzt, wo ich das schreibe wird mir bewusst, dass sie es auch an dieser Stelle wieder einmal schaffte, der Entscheidung aus dem Weg zu gehen, ohne dass wir es merkten. Doch dazu später mehr.

Nach dem der Trubel vorbei war, fiel Paulina auf, dass ihre Stirnlampe verschwunden war. Wir suchten den Zeltplatz ab, konnten sie aber nirgends finden. Sie musste sie verloren haben, als sie davon gelaufen war. In einer Nacht wie dieser, war das natürlich besonders ärgerlich.

Schließlich setzten wir uns noch einmal in unserem Zelt zusammen und sprachen in Ruhe über die Dinge. Nun wurden Paulina einige Dinge klar, zumindest für diesen Moment. Ihr größtes Problem war, dass sie das Gefühl hatte, dass sie jeder, der mit ihr zu tun hatte ständig verunsicherte. Dies war ebenfalls ein Grund, warum sie keine Entscheidung treffen konnte. Es gab zu viele Meinungen und Ansichten, die es zu berücksichtigen galt. Doch genau hier lag der Denkfehler. Nicht die Fremdmeinungen und Verunsicherungen machten die Entscheidung schwer, sondern die fehlende Entscheidung verursachte die Verunsicherungen. Wenn man beispielsweise ein Haus kauft und man sich bereits zu 100% dazu entschieden hat, dann gibt es nichts mehr, was einen noch verunsichern kann. Andere Menschen können ihre Meinung dazu sagen, doch es bleibt ihre Meinung, weiter nichts. Ist man sich jedoch unsicher, ob man sich ein Haus kaufen sollte oder nicht, dann lädt man mit dieser Unsicherheit jeden Menschen in seiner Umgebung ein, einen zu „beraten“. Jeder gibt seinen Senf dazu, redet dafür oder dagegen und am Ende weiß man gar nichts mehr. All diese Meinungen und Ratschläge haben jedoch nichts mit dem potentiellen Hauskäfer zu tun, sondern nur mit dem Leben der Ratgeber. Jemand der lieber in der Stadt lebt, wird zu einer Wohnung in der Innenstadt raten, jemand der für sein Leben gern Gemüse anbaut wird ein Haus mit einem großen Garten empfehlen und so weiter. Nichts davon ist hilfreich für den Käufer, es sei denn, er ist sich sicher, dass er den Rat von bestimmten Leuten einholen möchte, denen er in diesem Bereich vertraut. Alles andere ist nur eine Projektion seiner eigenen Unsicherheit und kann niemals zur Klarheit führen. Nichts anderes war es bei Paulina. Jeder erzählte ihr von seinen eigenen Ängsten, Bedenken und Träumen, weil sie jeden dazu einlud. Sobald sie sich selbst jedoch sicher war, konnte es diese Verunsicherungen nicht mehr geben. Es konnte sein, dass Menschen ihrer Meinung waren und ihre Entscheidung unterstützten und es konnte sein, dass andere sie für verrückt hielten. Doch beides war in Ordnung und hatte nichts mehr mit Paulina zu tun.

„Moment!“ sagte sie mit einem Leuchten in den Augen, „Dass bedeutet ja, ich muss mich gar nicht mit jedem streiten, der mit meinem Weg nicht einverstanden ist. Ich kann einfach sagen, dass ich jeden Einlade, sich mit mir zu freuen und in Gedanken bei mir zu sein, dass es für mich aber auch in Ordnung ist, wenn die anderen es nicht können. Ich gehe meinen Weg und wer mitgehen kann, ist willkommen und wer nicht, bei dem ist es auch gut?“

„Genau!“ sagte Heiko, „dass ist es, worauf wir die ganze Zeit hinaus wollen. Du sagst immer, dass dich jeder verstehen muss und dass jeder es gut finden muss, was du machst. Erst dann kannst du es durchziehen. Aber damit schreibst du allen anderen vor, wie sie zu denken haben. Überlass ihnen doch ihre eigene Meinung. Sie ist ja vollkommen in Ordnung, egal wie sie ausfällt. Aber deine Meinung ist genauso in Ordnung und du bist frei, dein Leben so zu gestalten wie du es willst. Genauso, wie es jedem anderen frei steht, deine Entscheidung für bescheuert, wahnsinnig oder dämlich zu halten. Du kannst und musst sie nicht davon abhalten und sie können dich nicht von deinem Weg abhalten. Der einzige, der das kann und der es auch die ganze Zeit tut, bist du, weil du der Meinung bist, dass dich jeder toll finden muss.“

„Ok!“, sagte Paulina, „ich glaube das verstehe ich langsam!“

Damit machten wir Schluss für diesen Abend. Paulina ging in ihr Zelt hinüber um die Erkenntnisse des Abends in ihrem Tagebuch festzuhalten und Heiko und ich schauten uns noch eine Serie an um etwas abzuschalten. Doch gerade als es spannend wurde, hörten wir einen lauten Schrei aus Paulinas Zelt: „Heiko! Tobi! Er ist da!“

Sofort rissen wir die Zelttür auf und sprangen nach draußen. Heiko war innerhalb von Sekunden bei Paulina, hatte dabei jedoch keine Zeit gehabt, sie die Schuhe anzuziehen, was bei den dornigen Bodenbewuchs eher suboptimal war. Paulina stand nun ebenfalls vor ihrem Zelt. Aufgeregt erzählte sie uns, dass sie gespürt hatte, wie jemand die Heringe aus ihrem Zelt gezogen hatte. Bei ihrem Aufschrei war der Unbekannte dann jedoch sofort weggelaufen. In die gleiche Richtung, in der auch der Sonderling verschwunden war.

„Hast du meine Schuhe mitgebracht?“ fragte Heiko an mich gewandt.

„Nein, aber du kannst meine haben!“ sagte ich und gab sie ihm, woraufhin er mit einer Wasserflasche bewaffnet die Verfolgung des Übeltäters aufnahm. Ich lief zu unserem Zelt zurück und holte mir neue Schuhe, um mich vor dem piecksigen Untergrund zu schützen. Dabei schnappte ich gleich auch das Pfefferspray, das wir für Notfälle immer im Rucksack aufbewahrten. Eine Stirnlampe wäre jetzt natürlich hilfreich gewesen, doch die lag irgendwo im Wald. Heiko kehrte zurück und wir suchten gemeinsam den Zeltplatz und die nähere Umgebung nach einem Menschen ab. Ohne Erfolg. Dann trennten wir uns. Heiko lief mit der Handylampe und der Wasserflasche die Straße hinauf und Paulina und Ich blieben mit den Pfeffersprays am Camp. Als Heiko oben im Wald ankam, sah er gerade noch, wie der kauzige Knilch sein Auto erreichte und damit weg fuhr. Ein kleines Stück rannte er hinter dem Wagen her um deutlich zu machen, dass er es wirklich ernst meinte. Dann kehrte er um und kam zu uns zurück.

Den Rest der Nacht blieb es ruhig, doch zum zweiten Mal hintereinander brachte Paulina kaum ein Auge zu vor lauter Angst. Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, dass es einen Unterschied gibt, zwischen einer irrationalen Angst und einer realen Gefahr. So sehr, wie sie sich zuvor noch vor den einsamen, dunklen Wäldern gefürchtet hatte, so sehr sehnte sie sich diese nun herbei. Klar gab es dort unheimliche Geräusche, seltsame Tiere und vielleicht sogar Geister. Doch verglichen mit volltrunkenen oder psychopathischen Menschen, waren sie Harmlos und ihr wurde klar, dass die Angst vor der Dunkelheit nichts im Vergleich war zu der Angst vor einem möglichen Vergewaltiger, der draußen vor der Tür oder vor ihrem Zelt auf sie lauerte.

Spruch des Tages: Es gibt einen Unterschied zwischen realer Gefahr und irrationaler Angst.

Höhenmeter: 290 m

Tagesetappe: 18 km

Gesamtstrecke: 11.620,27 km

Wetter: bewölkt und neblig, später hin und wieder sonnig

Etappenziel: Zeltplatz auf einem Feld, 44017 Vrosína, Griechenland

Hier könnt ihr unser und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Fortsetzung von Tag 650:

Als wir seinen Parkplatz wieder erreicht hatten, sagte er etwas zu mir, dass ich zunächst nicht verstand. Dann verstand ich es, konnte aber nicht glauben, dass er es gesagt hatte und glaubte deshalb lieber, es nicht verstanden zu haben. Fünf mal bat ich ihn, seine Worte zu wiederholen, bis ich sicher war, dass es sich nicht um ein Missverständnis aufgrund der Sprachbarriere handelte.

„Ich schlafe heute Nacht bei dem Mädchen von euch!“ sagte er, als sei das eine Beschlusssache, über die er mich nur Freundschaftshalber informieren wollte.

„Wie bitte?“ fragte ich noch einmal, denn so ganz glaubte ich es immer noch nicht.

„Ich schlafe heute Nacht bei dem Mädchen von euch!“ wiederholte er.

Dies wäre eigentlich der Moment gewesen, in dem ich ihn hätte anschreien sollen, was er für ein Perversling ist oder in dem ich ihm einen saftigen Schlag hätte verpassen müssen, damit er wieder auf den Boden der Tatsachen zurück kommt. Doch auch meine Höflichkeitsgrenze war dafür zu groß. Stattdessen sagte ich einfach nur: „Nein! Das wirst du nicht!“

„Warum nicht?“ fragte er. Wenn ich ihn bislang noch nicht verprügelt hatte, dann wäre es jetzt wohl angemessen gewesen. Was erdreistete sich dieser Kerl, von Paulina zu sprechen als wäre sie ein Objekt, dass er sich für diese Nacht einmal ausborgte? Wie konnte er glauben, damit durchzukommen, ohne eins auf die Fresse zu kriegen? Ach ja, richtig! In dem ich ihm signalisierte, dass von mir keine Gefahr ausging. In dem er wusste, dass er keine auf´s Maul bekommen würde. Und er bekam es auch nicht.

Ich ließ mich sogar auf das Spiel ein und begann zu begründen, warum es nicht möglich war. Als bräuchte ich dafür wirklich Gründe. Ich erklärte ihm, dass Paulina Heikos Freundin war, dass wenn überhaupt sie entscheiden musste, wer sich zu ihr ins Zelt legte und dass die ganze Art, wie er damit umging nicht in Ordnung war. Doch er stellte sich blöd und tat als würde er nichts verstehen. Er war darin sogar so gut, dass ich mir schon wieder unsicher war, ob ich ihn nicht auch einfach vollkommen falsch verstanden hatte. Ich erklärte es noch einmal und dieses mal meinte er: „Ok, dann gebe ich euch eben Geld dafür!“

Ich kann es nur noch einmal sagen: Wenn ich bislang keinen Grund gehabt hätte, dem Mann eine einzuschenken, dann war spätestens jetzt der richtige Zeitpunkt dafür gekommen. Nun hatte er Paulina auch noch als Nutte und uns als ihre Zuhälter bezeichnet. Wie konnte ich das nur zulassen? Ich weiß es nicht, aber ich ließ es zu.

„Nein, nein!“ sagte er schnell, „nicht falsch verstehen! Ich will keinen Sex mit ihr! Ich will nur neben ihr einschlafen!“

Ich habe keine Ahnung, was mit dem Mann los war. Vielleicht war das irgend ein komisches Spiel, vielleicht meinte er es auch ernst und er sehnte sich einfach nach menschlicher Nähe, die er sonst vielleicht nicht bekam. Ansicht hätte es mir vollkommen egal sein müssen, denn das was er da abzog ging ohne Zweifel über jede Grenze. Doch irgendwie schaffte er es mich zu besänftigen und aus irgendeinem Grund hatten wir sein Auto inzwischen verlassen und gingen sogar auf unser Camp zu.

„Eines sage ich dir!“ sagte ich dem Mann und blieb dabei vor ihm stehen. „Wenn du später noch einmal in unser Camp kommst, dann wirst du es bitter bereuen! Paulina ist Heikos Freundin und wenn du ihn wütend machst, dann geht das für dich nicht gut aus! Hast du das verstanden?“

Er druckste etwas herum, aber es war klar, dass er mich verstanden hatte. Ich kann nicht mehr sagen warum, aber ich erlaubte ihm, zehn Minuten in unserem Camp zu verweilen, wenn er dann verschwand und sich nicht mehr blicken ließ. Damit war er einverstanden und so kam es, dass wir plötzlich wieder beide in unserem Lager standen, obwohl es das letzte war, was ich wollte.

Heiko war bereits im Zelt und schrieb an einem Text, während Paulina in der Mitte des Camps saß und kochte. Ich ging sofort zu ihr und erzählte ihr von dem Gespräch zwischen mir und dem Fremden. Sie war schockiert und konnte es nicht fassen, aber auch sie war zu höflich, um den Mann zu vertreiben. Nichts hätte dagegen gesprochen, wutentbrannt auf ihn loszugehen und ihm eine Backpfeife zu verpassen, die ihn aus den Latschen gehauen hätte. Auch damit wäre das Thema erledigt gewesen und sie hätte zweifelsfrei deutlich gemacht, dass sie ihm die Genitalien abreißen würde, wenn er es wagte, auch nur noch ein weiteres Mal an seinen Plan zu denken. Stattdessen blieb sie jedoch sitzen, kochte weiter und fühlte sich absolut unwohl.

Der Mann half noch beim Umfüllen des Wassers in unsere Trinkbeutel und dann verabschiedete ich mich offiziell von ihm. Ich gab ihm die Hand, wünschte eine gute Nacht und er erwiderte den Gruß. Doch anstatt zu gehen setzte er sich auf den Boden und zündete sich eine Zigarette an. Wieder saß er nur schweigend da und starrte uns an, doch dieses Mal wirkte er dabei sogar noch unheimlicher. Paulina versuchte ein paar mal, ihn mit neuen Ausreden zum Gehen zu bewegen. „Wir sind müde und wollen nun schlafen! Könntest du uns nun bitte alleine lassen?“

Er nickte und sagte, das sei natürlich kein Thema, bewegte sich aber keinen Zentimeter. Schließlich stand er auf, kamm auf mich zu und schaute mir zu, wie ich meinen Hüftgurt reparierte. Jetzt wurde es mir zu viel: „Du hast gesagt, du bleibt zehn Minuten!“ fuhr ich ihn an, „diese Zeit ist lange abgelaufen, also verschwinde jetzt endlich!“

„Ok, ok!“ sagte er beschwichtigend, „Ich wollte ja nur wissen, was du da machst!“

„Nein!“ sagte ich und wurde dabei dieses Mal strenger, „Geh!“

Diesmal verstand er es und er ging wirklich. Misstrauisch beobachteten wir noch, wie er langsam durch das Dickicht in Richtung Berghang verschwand.

Doch das Thema war damit noch lange nicht beendet. Beim Abendessen sprachen wir noch einmal über die Vorgänge und über den Verlauf der Ereignisse in den letzten Wochen. Am Anfang war es nur eine Theorie gewesen, dass Paulina ständig größeren Druck anzog, solange bis sie endlich eine Entscheidung treffen konnte. Nun zeigten die Ereignisse der vergangenen Tage und Stunden deutlich, dass diese Theorie der Wahrheit entsprach. Seit ihrer Ankunft stand die Entscheidung aus, ob sie wirklich mit allen Konsequenzen hier sein wollte und ob sie bereit war zu sich zu stehen und sich für sich selbst und die Gruppe einzusetzen. Seither war viel passiert und bereits viele Male waren wir an Punkte gekommen, an denen die Frage nach der Entscheidung absolut akut geworden war. Die drei Tage, die wir getrennt von einander verbracht hatten, waren in erster Linie dazu da gewesen, damit Paulina Zeit bekam um die Entscheidung für sich in Ruhe zu treffen. Doch das war nicht geschehen. Sie hatte das Thema nur wieder vom Tisch gedrängt. Auch die Beinahe-Vergewaltigung im Hotel hatte nicht ausgereicht um sie zu einer Entscheidung zu bewegen. Nun hatte sich bereits der nächste potentielle Täter in Form dieses verschrobenen Vogels angekündigt und damit wurde die Frage akuter denn je zuvor. Auch dieser Mann war noch ein Opfertyp, doch er hatte etwas an sich, dass ihn irgendwie wie einen Psychopathen erscheinen ließ. Es war unmöglich, ihn einzuschätzen und er mochte zu allem im Stande sein, wenn man ihm keine Grenzen aufzeigte. Was würde als nächstes kommen? Wenn es diese Nacht gut ging, dann kam vielleicht schon morgen ein wirklicher Gewalttäter, der nicht nur mit einer nächtlichen Kuschelattacke drohte, sondern wirklich zur Tat schritt. So gerne wir Paulina auch helfen wollten, dieses Ausweichen vor der Entscheidung konnten wir nicht unterstützen. Wenn wir das zuließen, machten wir uns gewissermaßen mitschuldig, wenn ihr etwas zustieß. Gleichzeitig zogen wir uns damit auch selbst ins Zentrum der Gefahr. Was war, wenn sich die Angreifer nicht mehr nur durch wütendes Schreien vertreiben ließen. Wenn sie in den Gegenangriff übergingen und dabei wohlmöglich in der Überzahl und bewaffnet waren? Klar würden wir Paulina verteidigen, wenn sie bei uns war, aber es konnte nicht sein, dass sie ganz bewusst Gewaltsituationen heraufbeschwor die uns unsere Gesundheit, unsere Freiheit oder wohlmöglich unser Leben kosten konnten. So gerne wir Paulina auch hatten, dafür waren wir nicht bereit. Vor allem deshalb nicht, weil die Lösung so einfach war. Klar war die Gefahr nicht vollkommen verschwunden, wenn Paulina sich wirklich für ihr Leben entschied. Das sah man ja an mir. Auch wenn ich mich entschieden habe, gerate ich noch immer häufig in Situationen, in denen ich nicht zu 100% zu mir stehen konnte. Aber es war ein Anfang und auf diese Weise konnte sie zumindest schon einmal dafür sorgen, dass der Druck nicht ständig erhöht wurde, sondern vielleicht gleich blieb. Irgendwann musste sie lernen, ihr Opfersein abzulegen und das konnte sie nur, wenn sie mit dem ersten Schritt begann. Und dieser bestand nun einmal darin, sich für das eigene Leben und nicht für die Anerkennung anderer zu entscheiden. Je länger sie damit wartete, desto härte wurden die Wegweiser und desto stärker machte sie das Leben für sich selbst und für uns zu einem Kampf, den keiner von uns führen wollte.

Und doch war die Angst noch immer zu groß. Heiko und ich waren kurz vor der Verzweiflung.

„Nur noch einmal, damit ich das richtig verstehe“, versuchte ich die Essenzen der letzten halben Stunde zusammenzufassen, „du hast verstanden, dass du dir das Leben durch eine Nichtentscheidung zur Hölle machst, dass du immer gefährlichere Situationen anziehst und dass du jeglichen Frieden in unserer Herde zerstörst und trotzdem kannst du nicht Ja zu deinem Leben sagen?“

Paulina nickte. Was war es, was sie davon abhielt, ja zu sich selbst zu sagen? Wovor hatte sie so eine Angst.

Wir verstanden, dass noch immer der Glaubenssatz in ihr steckte, dass sie sterben müsse, wenn sie nicht mehr von den Menschen geliebt wurde, die ihr nahe standen. Und wir verstanden auch, dass sie Angst davor hatte, dass die Menschen, die ihr nahe standen nicht damit einverstanden waren, dass sie sich für ein Leben in Freiheit entschieden hatte und dass sie aufhören wollte, eine Schauspielerin zu sein. Sie hatte erlebt wie es bei mir und meinen Eltern verlaufen war und es gab keine Garantien, dass es bei ihr nicht ähnlich oder genauso werden könnte. Das wollte sie einfach nicht riskieren und deshalb konnte sie nicht mit ganzem Herzen hier sein. Doch dieses Halbherzige war es, was die Sache wirklich gefährlich machte. Sie war wie die Steuerfrau auf einem kleinen Floß, dass auf einen Wasserfall zufuhr. Um sich zu retten, musste sie nur entscheiden, ob sie nach links oder nach rechts ans Ufer paddeln wollte. Doch weil sie Angst davor hatte, das falsche zu tun, trieb sie einfach immer weiter geradeaus und wurde immer panischer, weil die Strömung ständig an Geschwindigkeit zu nahm. Bald schon würde sie in einen Abgrund stürzen, wenn sie es nicht schaffte, auf die eine oder auf die andere Art zu reagieren.

Schließlich kam auch Paulina nicht mehr umhin, dass ihr die Notwendigkeit dieses Schrittes bewusst wurde. Doch anstatt besonnen zu überlegen was das beste für sie war, wurde sie noch panischer und schließlich schrie sie so laut sie konnte: „Verdammt! Dann geh ich eben nach Hause!!!“

Fortsetzung folgt...

 

Spruch des Tages: Wieso entscheidet man sich so oft gegen sein Bauchgefühl, obwohl es fast immer Recht hat?

Höhenmeter: 340 m

Tagesetappe: 19 km

Gesamtstrecke: 11.602,27 km

Wetter: bewölkt aber überwiegend trocken

Etappenziel: Zeltplatz auf einem Feld, 44003Raiko, Griechenland

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Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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