Weltreise im Low Budget Wohnmobil

von Franz Bujor
28.05.2022 07:09 Uhr

Seit dem Sommer 2021 befinde ich mich auf einer Weltreise mit einem Low Budget Wohnmobil, das ich mir selbst aus einem alten LKW aufgebaut habe. Warum ich das mache, wie es zu dieser Entscheidung kam, welche Erfahrungen ich bisher sammeln konnte und was Sir Lanzelot zu all dem sagt, verrate ich euch hier in diesem Gastartikel bei den Lebensabenteurern.

 
Perfekte Aussicht: Mit Allrad Lada Taiga am Abgrund

Perfekte Aussicht: Mit Allrad Lada Taiga am Abgrund.

 

Ein Roadtrip im Low Budget Wohnmobil durch Südeuropa

Alles begann 2016 mit der Frage, wie lange man eigentlich bis nach Barcelona fahren würde. War es nah genug, um einfach mal einen Abstecher dorthin zu machen? Oder war dieser Gedanke utopisch?

Ein Blick auf die Karte brachte die Erkenntnis, dass man mit dem Auto in gerade einmal rund 20 Stunden dort sein würde, und so beschlossen mein Kumpel Michael und ich kurzerhand, mit meinem alten Lada Taiga und einem selbstgebauten Dachzelt einen Roadtrip durch Südeuropa zu machen.

Urlaub mit dem Lada Taiga nach Barcelona

Urlaub mit dem Lada Taiga nach Barcelona.

 

Unser Weg führte uns quer durch Österreich, Liechtenstein, die Schweiz, Frankreich, Andorra und Spanien bis nach Barcelona. Auf dem Rückweg ging es dann entlang der Südküste Frankreichs nach Italien und von dort wieder zurück nach Österreich. Die Reise war voller Abenteuer und machte uns mehr Spaß, als wir uns hätten träumen lassen. Sogar der Lada hielt durch und ließ uns nie im Stich.

Na gut, vielleicht einmal abgesehen von dieser einen Situation, bei der wir für ein paar Stunden in Barcelona am Strand feststeckten. Aber wegen genau solcher Abenteuer waren wir schließlich auch aufgebrochen. Und am Ende ist ja auch alles gut gegangen. Auch wenn viele das vielleicht anders sehen würden, gehört der Lada Taiga für mich seither ganz klar auf die die Liste der besten Geländewagen der Welt.

Nur am Strand kam die Offroad-Tauglichkeit des Lada Taiga einmal an seine Grenzen

Nur am Strand kam die Offroad-Tauglichkeit des Lada Taiga einmal an seine Grenzen.

 

Wo der Plan schiefgeht, fängt das Abenteuer an!

Gestärkt durch dieses positive Erlebnis wussten wir, so etwas müssen wir wieder machen! Das Jahr darauf war der Balkan dran. An der Küste ging es runter bis ans Schwarze Meer und über Moldawien, Polen und Tschechien wieder rauf nach Österreich. Bei dieser Reise war schon etwas mehr Abenteuer dabei, angefangen vom kaputten Kühler über Zündfehler des Motors bis hin zu extremen Offroadpisten bei ebenso extremen Wetter, mitten in der rumänischen Wildnis. Wenn du dann mitten im Nichts bei strömenden Regen dein Auto versenkst und dir dabei auch noch die Seilwinde abbrennt, dann hast du zwei Möglichkeiten. Du kannst entweder total verzweifeln oder dich über die Situation freuen. Das klingt jetzt erst einmal merkwürdig, aber in diesem Moment konnte ich tatsächlich spüren, dass ich diese Entscheidung bewusst treffen musste. Gebe ich mich meinen Gedankenstimmen der Angst hin und verfalle in Panik, oder nehme ich die Herausforderung an und mache mich voller Tatendrang und Entdeckungsfreude auf die Suche nach einer Lösung.

Die Balkan-Reise: Mit dem Lada Taiga durchs Dickicht

Die Balkan-Reise: Mit dem Lada Taiga durchs Dickicht.

 

Ähnlich war es auch bei einer Fahrt durch die Pyrenäen, als uns plötzlich und vollkommen unerwartet die Lichtmaschine verreckte. Zum Glück waren wir vorbereitet und hatten für solche Fälle eine zweite als Ersatz dabei - Nur um dann festzustellen, dass diese ebenfalls nicht funktionierte. Also mussten wir improvisieren. Weil zu allem Überfluss draußen noch ein Unwetter tobte, zogen wir uns auf eine öffentliche Toilette zurück und bauten uns aus einem Gasbrenner und einem Taschenmesser einen MacGyver-Lötkolben, mit dessen Hilfe es uns gelang, die Bürsten so umzulöten, dass wir aus den zwei kaputten Lichtmaschinen eine funktionierende machen konnten.

Mit diesem improvisierten Lötkolben, ...

Mit diesem improvisierten Lötkolben, ...

... konnte der Lada wieder repariert werden.

... konnte der Lada wieder repariert werden.

 

Ich könnte jetzt noch unzählige solcher Situationen schildern, in denen ich vor der gleichen Entscheidung gestanden bin. Aber die Erkenntnis für mich war und ist immer wieder dieselbe:  In diesen Momenten zählt nur das Jetzt, alles Andere, alle Alltagssorgen sind egal. Das hat auch etwas unglaublich befreiendes! Mann muss sich nur um sein Auto und die Situationen kümmern, in die man sich damit bringt. Ob nun gewollt oder manchmal auch nicht.

 

Reisen als Lebenssinn

Es folgten mehrere Roadtrips mit meinem kleinen Low Budget Wohnmobil, zunächst wieder mit Michael, später dann mit Christian, einem anderen Freund. Dabei zog es uns ebenfalls wieder hauptsächlich nach Südeuropa und in den Balkan. Auch beim Pothole Rodeo sind wir zweimal gestartet. Insgesamt bereisten wir auf diese Weise rund 30 verschiedene Länder. Für mich wurde immer mehr klar, dass das für mich der Sinn des Lebens ist. Ich will kein Haus, keinen festen Job und keine zwei Kinder, wie es mir die Gesellschaft vorschreibt. Ich möchte die Freiheit spüren, indem ich einfach überall hin fahren kann, wo ich möchte. Ich will die Welt mit eigenen Augen sehen und fühlen und die Leute, Länder und Kulturen in echt und selbst erleben. Nicht, wie es in Film und Fernsehen gezeigt wird. Ich wusste schon immer, irgendwann mache ich eine Low Budget Weltreise und dafür möchte ich mir den Traum vom Allradwohnmobil erfüllen.

Die Trips in den Folgejahren mit dem Low Budget Mobil wurden noch um einiges abenteuerlicher

Die Trips in den Folgejahren mit dem Low Budget Mobil wurden noch um einiges abenteuerlicher.

 

Low Budget Weltreise mit dem LKW?

Der Lada Taiga wahr aufgrund seiner Einfachheit und Größe ein super Fahrzeug für Offroadtouren, aber für eine Weltreise wäre er mir dann doch zu klein gewesen. Und weil ich keine halben Sachen mache, entschloss ich mich, einen gleich einen richtigen Lkw zu kaufen und nicht erst einen Bus auszubauen. Für mich war es schon lange klar gewesen, dass ich einen Mercedes-Benz 1017 haben möchte. Wie ich das ganze finanzieren sollte, war mir noch unklar, aber ich glaubte an das Gute im Leben und an das Gesetz der Anziehung. Wenn mich das Schicksal in Situationen wie damals im Schlamm in Rumänien nicht im Stich gelassen hatte, dann würde es das auch jetzt nicht tun. Und so wusste ich, es wird alles gut gehen. Ich suchte im Internet schon einige Zeit nach passenden Modellen, doch nachdem der Entschluss einmal fest getroffen war, musste ich nicht mehr lange weiter suchen. Durch einen glücklichen Zufall lernte ich Oliver kennen, der mir mit seiner Erfahrung zu Seite stand. Dank seiner Hilfe war der passenden Lkw schnell gefunden und auch genau das, was ich wollte. Ich glaubte an mein Gefühl und habe den LKW noch in derselben Woche gekauft. 12000 € hatte ich gespart und der LKW kostet mich bereits 9990 €. Da blieb also nicht viel übrig, um ihn auszubauen, außer meiner eigenen Arbeitskraft. Aber ich glaubte dran, dass es schon alles irgendwie funktionieren würde.

Das neue Expeditionsmobil ist einsatzbereit!

Das neue Expeditionsmobil ist einsatzbereit!

 

Ein Expeditionsmobil aus einem LKW bauen

Die Heimreise von Deutschland mit dem LKW war gleich mal ein 16-stündiges Abenteuer, das ich gemeinsam mit meinem alten Freund Christian erlebte. Einen LKW-Führerschein habe ich mit 18 Jahren klugerweise gemacht, aber außer in der Fahrschule bin ich eigentlich mit keinem LKW mehr gefahren...

Nun baue ich seit 2019 an meinem LKW in dem ich seit Juni 2021 auch dauerhaft zusammen mit meinem Kater Sir Lanzelot lebe. Den LKW wahr ursprünglich ein Tanklöschfahrzeug mit Doppelkabine und einem 2500-Liter-Wasser-Tank. Anfangs hieß es zuerst einmal, alles Unnötige muss runter und das Fahrerhaus muss gekürzt werden. Ich bin gelernter Bauspengler und bin der Meinung das jeder alles schaffen kann, wenn er nur wirklich an sich glaubt. Den gesamten Umbau, mit allen anfallenden Arbeiten, über Schweißen bis zu Hydraulik, Tischlerarbeiten, Elektronik und Wasserinstallation, habe ich alles alleine oder gemeinsam mit meinem Vater bewältigt.

Das Expeditionsmobil ist nun permanenter Wohnsitz von Martin und Sir Lanzelot

Das Expeditionsmobil ist nun permanenter Wohnsitz von Martin und Sir Lanzelot.

 

Die Eckdaten zum LKW:

  • Gewicht: 10t
  • Leistung: 170Ps
    Unterwegs mit dem Expeditionsmobil

    Unterwegs mit dem Expeditionsmobil

  • Tankvolumen: 475 l Diesel, 400l Trinkwasser, 120 l Grauwasser, 10 l Warmwasser
  • Heizung: je 2 kW elektrische Standheizung für Fahrerkabine und Koffer + Split Klimaanlage + Holzofen
  • Stromspeicher: 200Ah LiFePo4-Akkus
  • Stromgewinnung: 1000 Wp Solaranlage
  • Ausstattung: Außendusche, Toilette, Trommelwaschmaschine, Bett mit 140 x 200, Couch in U Form 200x140x70, Esstisch für 2 Personen
  • Abmessungen: Koffer innen 2,11 x 4,25 und 2,10 m Stehhöhe.
  • Als Wohnkoffer dient ein Aufbau eines Trockenfrachttransporters.
Expeditionsmobil am Strand

Expeditionsmobil am Strand.

 

Leben im selbst gebauten Low Budget Allrad-Wohnmobil

Ich habe alles selbst geplant und umgesetzt, wobei “geplant” vielleicht etwas viel gesagt ist. Letztlich hatte ich ein paar Skizzen und Berechnungen zu Papier gebracht, und schon ging es los. Wichtig war mir vor allem, dass ich mich in der fertigen Kabine auch wohlfühle, daher wahr für mich klar, keine weißen Hochglanzschränke, sondern alles aus Holz und möglichst naturbelassen. Ich bin mit dem Ergebnis sehr glücklich und fühl mich sehr wohl auf meinen gut 7 m², die ich nun auch schon seit Juni 2021 auch dauerhaft mein Zuhause nenne. Besonders froh bzw. stolz bin ich darauf, dass ich die Dusche und das WC getrennt habe und auch das Bett mit der Seilzug Konstruktion ermöglichte es, eine große Liegefläche und zudem eine gemütliche Couch unterzubringen. So können auch mal 2 - 3 Leute zu Besuch kommen und man findet noch Platz. Ein Blickfang ist bestimmt auch der alte Holzofen, den ich nur durch Zufall geschenkt bekommen habe und der gleich perfekt gepasst hat. Er hatte tatsächlich genau die richtige Größe für den Bereich, den ich dafür freigelassen habe.

Man sieht also, alles fügte sich zusammen, auch wenn man sich nicht zuvor ewig den Kopf darüber zerbricht, sondern einfach nur mit positiver Energie an eine Sache herangeht. Man muss wissen, was man tut und darauf vertrauen können, dass es gelingt, dann wird es einem auch gelingen.

Die Küche im Expeditionsmobil

Die Küche im Expeditionsmobil.

 

Weltreise mit Katze

Zuletzt fügte ich noch ein sehr wichtiges Element zu meinem LKW-Home hinzu: Einen selbstgebauten Kratzbaum für meinen Kater Sir. Lanzelot, der ja auch wie ich zu einem permanenten Bewohner des Expeditionsmobils wurde. Auch er liebt das Reiseleben genauso wie ich und er fühlt sich richtig wohl im LKW. Das war auch schon während des Ausbaus so, wo er natürlich fast immer dabei wahr und  wo er sich bereits in der Roh-Kabine so verhielt, als wäre er hier zuhause. Er lief schnurrend durch die Gegend oder lag auf seiner Decke, vollkommen unbeeindruckt von Stichsäge, Bohrmaschine und Co.

Unterwegs mit Reisekatze Sir Lanzelot

Unterwegs mit Reisekatze Sir Lanzelot.

 

Wie finanziert man eine Weltreise im Low Budget Wohnmobil

Auf meiner Facebook Seite gibt es auch in Kürze eine detaillierte Auflistung aller Kosten und der Arbeitszeit, die ich in das Projekt hineingesteckt habe. Mittlerweile werden es ca. 55000 € sein, inkl. Kaufpreis des LKWs. Wenn ihr mich jetzt fragen würdet, ob ich mir das leisten kann, würde ich sagen nein! Doch wie es aussieht, konnte ich es am Ende doch irgendwie. Auch dafür spielte mir das Leben wieder in die Karten, auf verschiedene Art und Weise. So wechselte ich beispielsweise aus augenscheinlich zufälligen Gründen 2021 die Firma. Ich wusste es bei der Entscheidung nicht, aber es stellte sich heraus, dass ich dadurch einen riesigen Berg an angesammelten Überstunden plötzlich ausgezahlt bekam, die ich sonst nur hätte abbummeln dürfen. Dadurch hatte ich eigentlich immer genug Geld, um den Aufbau voranzutreiben und wenn mal kein Geld da wahr, dann gab es noch immer genug Arbeit, die "nur" Zeit kostete, sodass ich dennoch stets vorankam.

Wohnzimmer im Expeditionsmobil

Wohnzimmer im Expeditionsmobil.

 

Wie ist das Leben im Low Budget Wohnmobil?

Alles in allem bereichert das Wohnen und Reisen in meinem selbstgebauten Low Budget Wohnmobil und dessen Aufbau selbst, mein Leben ungemein. Ich konnte mir damit selbst beweisen, dass ich alles schaffen kann, wenn ich es möchte. Oft werde ich gefragt, ob das Leben im LKW mit wenig Geld nicht ein großer Verzicht auf Luxus und Komfort ist und eine Menge Entbehrungen mit sich bringt. Ich denke, das ist aber vor allem eine Frage der Perspektive. So wie es für einen Bürger aus der österreichischen Mittelschicht “Verzicht und Entbehrung” bedeutet, ist mein Low Budget Wohnmobil an vielen anderen Orten der Welt Hightech und Luxus pur. Ich selbst sehe es eher als eine Befreiung von so vielen alltäglichen Sachen, die rund um ein Haus oder Wohnung anfallen. Ich habe bei meinem Auszug aus der Wohnung nur einen kleinen Teil meiner Kleidung und zwei bis drei Erinnerungsstücke mitgenommen, der Rest liegt seither in der Garage meiner Eltern und wird verkauft oder verschenkt. Oft habe ich den Eindruck, dass ein Mensch umso glücklicher ist, je weniger er besitzt. Auf mich trifft das in jedem Fall zu, denn mit jedem Stück Ballast, das ich loswerden durfte, fühlte ich mich freier. Und wenn man alles, was man besitzt, ständig mit sich führen muss, bekommen die Dinge eine andere Bedeutung. Reichtum bedeutet dann nicht mehr, so viel Kram wie möglich anzusammeln, sondern optimal mit dem zurechtzukommen, was man bei sich hat.

Unterwegs mit Reisekatze Sir Lanzelot

Unterwegs mit Reisekatze Sir Lanzelot

 

Wo führt die Low Budget Weltreise hin?

Was meine Weltreise in dem Low Budget Wohnmobil anbelangt, halte ich es genauso, wie ich es auch schon beim Aufbau gemacht habe. Ich zerbreche mir nicht lange den Kopf mit einer Reiseplanung, sondern fahre dorthin, wo es mich gerade hinzieht. Das bedeutet es für mich, wirklich frei zu sein. Die Welt liegt offen vor mir und wenn ich Lust auf einen Ausflug ans Meer habe, dann fahre ich an irgendeinen schönen Strand. Oder es zieht mich in die Berge, in die Steppe oder wieder mal auf einen Roadtrip durch Europa. Es wird sich zeigen, und wenn ihr es mitverfolgen wollt, dann findet ihr alle Informationen darüber auf meiner Facebook-Seite!

Eine große Landkarte gehört in jedes Weltreise-Expeditionsmobil!

Eine große Landkarte gehört in jedes Weltreise-Expeditionsmobil!

 

Wir sehen uns!

Viel Spaß und Lebensfreude

Martin Strohmer

 

Bildergalerien

Hier bekommt ihr noch ein paar weitere Impressionen von meinen Reisen mit dem Lada Taiga:
Weltreise mit dem Auto

Für eine Weltreise mit dem Auto ist der Lada Taiga dann vielleicht doch etwas zu klein.

  Hier ist noch der Rest meiner Roomtour durch das große Expeditionsmobil:  
Ich liebe meinen Lada Taiga

Eine dicke Umarmung für einen treuen eisegefährten!

 

Andere Weltreisende:

Hier findet ihr noch spannende Artikel von anderen Reisenden, die auf ausgefallene Art unterwegs sind:  

Bildquellen:

© Martin Strohmer  

So kalt wie die Nacht wurde auch der nächste Morgen. Der Tau, der auf den Bäumen und den Wiesen lag, wirkte sogar schon leicht weißlich, so als wäre er kurz davor zu gefrieren. Während wir das Zelt abbauten, packten wir uns so dick und warm ein, wie es nur ging. Doch kaum hatten wir uns auf den Weg gemacht wurde es auch schon wieder warm, denn die Straße stieg fröhlich weiter an, bis auf eine Höhe von etwas über 1800 Höhenmetern. Bei all den Bergen die wir in letzter Zeit erklommen hatten, war dies doch seit Andorra der höchste.

Irgendwo im Wald, kurz vor dem Gipfel tauchte dann der Grenzposten vor uns auf. Außer den Beamten trafen wir hier auch auf einige Fahrzeuge mit insgesamt zehn amerikanischen Soldaten. Sie standen an der Seite und unterhielten sich, ohne großartige Notiz von uns zu nehmen. Dennoch fielen sie uns auf. Wir wussten noch immer wenig über den Kosovo, aber dass die Amerikaner hier irgendwo ihre Finger im Spiel hatten zeichnete sich immer deutlicher ab. Der Grenzübertritt verlief ansonsten ereignislos. Nicht einmal einen Ausreisestempel bekamen wir. „Stempel gibt es erst an der anderen Seite der Grenze!“ meinte der Beamte nur knapp.

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Doch die andere Seite der Grenze ließ erst einmal auf sich warten. Die Straße schlängelte sich weiter zwischen den Bergen hindurch in ein schier unendliches Niemandsland. Um uns herum gab es nun nur noch steile Hänge und dichte Wälder. Für Wildtiere musste es das reinste Paradies sein.

Nach einer knappen Stunde sahen wir in einem kleinen Tal einige Bauwerke. Hier musste nun dann wohl doch die Grenze sein! Doch als wir näher kamen bemerkten wir, dass es sich dabei lediglich um ein kleines Dorf handelte. Es gab nur einige einfache Hütten sowie eine Reihe von Zelten, wodurch das Dorf aussah, als wäre es nur eine vorübergehende Lagerstätte eines Nomadenvolkes. Es gab einige Felder, ein paar Esel und mehrere alte Frauen, die uns genauso erstaunt anschauten wie wir sie. Auch ihre Kleidung wirkte so, als gehörte sie zu einem Volk der Tuareg oder zu einem mongolischen Klan. Am meisten faszinierte uns jedoch die Toilette, die aus einem kleinen Häuschen bestand, ähnlich wie die die man bei uns immer mit dem Herz in der Tür kennt. Nur wurde es hier direkt über einen kleinen Bachlauf gebaut, so dass die Notdurft, nachdem sie entrichtet worden ist, gleich im Trinkwasser davonschwimmen kann. Wenige Meter unterhalb des Häuschens grasten die Kühe, die ihren gut zerkauten Grasbrei anschließend mit dem Notdurftwasser herunterspülten. Ihnen selber machte das wahrscheinlich wenig aus, denn sie waren es ja gewohnt, am gleichen Ort zu fressen und zu kacken. Aber etwas komisch wirkte es schon.

Nach dem kleinen Nomadendorf im Niemandsland dauerte es noch weitere fünf Kilometer, bis wir die Grenze erreichten. Hätte ich das vorher gewusst, hätte ich wahrscheinlich nicht die gesamten zwei Stunden der Wanderung unsere Reisepässe vorzeigebereit in der Hand gehalten. Mehrere Male war ich schon kurz davor sie wieder einzupacken, in der felsenfesten Überzeugung, dass man den Grenzposten auf der Seite des Kosovo einfach abgeschafft hatte. Dann aber kam er doch noch.

Nach all den Warnungen über die Gefährlichkeit des Krisengebietes Kosovo waren wir fast ein bisschen enttäuscht darüber, wie reibungslos alles vonstatten ging. Es war eine ganz normale Grenze mit einem Wachpersonal, das nicht gerade vor Lockerheit übersprudelte, aber auch keineswegs unfreundlich war.

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„Dober Dan!“ grüßten wir die Beamten auf serbisch.

„Mirëdita!“ korrigierte uns der Mann daraufhin und fügte auf Englisch hinzu: „Die Landessprache hier ist Albanisch. Wenn ihr guten Tag sagen wollt, müsst ihr also Mirëdita sagen.“

„Stimmt!“ rief ich und war ganz begeistert davon, dass uns der Mann gleich ein neues Wort beigebracht hatte. „Wo Sie gerade davon sprechen, könnten Sie uns vielleicht bei ein paar Vokabeln behilflich sein?“

Völlig verdutzt schaute uns der Mann an. In seiner kompletten Amtszeit als Grenzposten hatte er noch nie zwei Wanderer gesehen, die je einen großen Karren hinter sich herzogen. Das allein war schon ungewöhnlich genug. Doch nun auch noch als Sprachlehrer herhalten zu müssen, überstieg seine innere Vorstellungskraft bei weitem. Vor lauter Verwirrung nickte er einfach mit dem Kopf. Sofort zückte ich mein Diktiergerät und begann damit, die ersten Vokabeln abzufragen. Der Mann Antwortete brav und gab uns die wichtigsten Wörter: „Danke, Sprechen Sie Englisch, Deutsch, Spanisch oder Serbisch, Bitte, Ja, Nein, Guten Tag, Auf Wiedersehen“ Dann war seine Bereitschaft erschöpft und wir ließen es erst einmal darauf beruhen.

„Oh mein Gott!“ meinte Heiko als wir die Grenze hinter uns gelassen hatten. „Das lernen wir ja nie!“ Trotzdem wir es jetzt auf dem Diktiergerät haben, kann ich mir nicht vorstellen, dass wir auch nur ein Wort davon jemals aussprechen können. Geschweige denn auswendig lernen!“

Ganz unrecht sollte Heiko damit wirklich nicht behalten. Albanisch war mit Abstand die schwerste Sprache, die ich je zu lernen versucht hatte und es dauerte ganze drei Tage bis wir in der Lage waren auch nur „Danke!“ zu sagen. Bis zum Schluss gelang es uns nicht, unsere Sätze auswendig zu lernen und so konnten wir nur mit unseren Zetteln kommunizieren. Dafür muss man sagen, kamen wir dann aber erstaunlich gut durch!

Seit wir den Pass hinter uns gelassen hatten waren wir nun permanent bergab gegangen. Doch erst ein knappes Stück hinter der Grenze öffneten sich die Berge zum ersten Mal und gaben einen Blick auf das Tal frei. Vor uns lag es, der Kosovo, als eine gigantische Flachebene umgeben von hohen Bergen. Es wirkte fast unwirklich, so wie das Tal dort eingebettet war. Auf der einen Seite freuten wir uns schon riesig, endlich wieder einmal ein paar Tage lang wandern zu können, ohne permanent bergauf oder bergab gehen zu müssen. Gleichzeitig konnten wir uns aber auch noch nicht so ganz vorstellen, wie man auf so einer Flachebene überhaupt zurechtkommen sollte. Wo wollte man zelten, wenn es keine Berge mehr gab, die einem Sichtschutz gaben? Wälder konnten wir von hier oben nur wenige erkennen. Das meiste waren Straßen und Häuser. Was immer uns dort unten also erwartete, es würde noch einmal spannend werden.

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Die Straße schlängelte sich nun wieder in Serpentinen am Hang entlang und wand sich dabei insgesamt 1200 Meter in die Tiefe. Hinter einer Kurve trafen wir einen Amerikaner mit einem beeindruckend dicken Bauch, der ein paar Worte mit uns wechselte. Er war laut eigenen Angaben im Urlaub, doch das wirkte wenig überzeugend. Sein Reisegepäck bestand nur aus einem Aktenkoffer und auch seine Kleidung war etwas zu geschäftig um als Freizeitkleidung durchgehen zu können. Hätte er einen Schriftzug mit „Dienstfahrzeug“ auf seinem Wagen stehen gehabt, wäre es nicht deutlicher gewesen, dass er sich auf einer Geschäftsreise befand. Warum also hatte er uns angelogen?

Zwei, drei Serpentinen tiefer machten wir eine kurze Rast für ein Picknick um dabei die Aussicht zu genießen. Hier war es noch angenehm ruhig und wer wusste schon, wie es im Tal werden würde. Kaum hatten wir unser Brot ausgepackt, bekamen wir auch schon besuch von ein paar kontaktfreudigen Damen mit üppigen Brüsten. Mit fast unverschämter Zutraulichkeit bestaunten sie unsere Wagen und einige von ihnen schnupperten sogar daran. Dann drängten sie sich dicht neben uns als hätten sie gerade erkannt, dass dies der einzig wahre Picknickplatz im Umkreis von sieben Kilometern ist. Fast gierig machten sie sich an den Brombeersträuchern zu schaffen und wedelten uns dabei mit ihren Hintern direkt vor der Nase herum.

„Kommt schon Mädels, bitte!“ sagte Heiko, „jetzt aber nicht pinkeln oder kacken! Das muss nicht sein! Geht doch einfach ein kleines Stückchen weiter!“

„Muhhh!“ antwortete die junge Dame mit den braunen Flecken ungerührt und kaute weiter an ihren Brombeerblättern. Ihr Hintern befand sich nun direkt hinter unseren Köpfen und langsam bekamen wir wirklich ein ungutes Gefühl. Es passierte nichts, aber wir waren dennoch erleichtert, als sie gemeinsam mit ihren Freundinnen ein Stückchen weiterzog.

Es dauerte noch knapp zwei Stunden, bis wir schließlich das Tal erreichten. Den Überquerung des Grenzgebirges hatten wir also geschafft. Nun brauchten wir nur noch einen ruhigen Zeltplatz und ein Abendessen.

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Unser erster Eindruck von den Menschen passte nicht im Geringsten zu dem, was man uns prophezeit hatte. Die meisten Einheimischen machten einen sehr freundlichen Eindruck und schienen den Serben in ihrer Mentalität deutlich ähnlicher zu sein, als es sich beide Seiten eingestehen wollten. Auch das Land an sich wirkte nicht wie ein gefährliches Krisengebiet. Es sah ein bisschen aus wie in Bosnien, nur dichter besiedelt und viele der Häuser waren sogar in einem weitaus besseren Zustand. Sie waren auch hier nicht übermäßig schön und so etwas wie Putz oder Klinker schien auch hier ein reiner Luxus zu sein, aber es definitiv auch nicht hässlich. Es sah im Grunde aus, wie überall auf dem Balkan.

Auch die Sprache wurde zunächst weit weniger ein Problem, als wir vermutet hatten. Das erste Pärchen, das wir um Essen baten sprach französisch und betrieb sogar einen kleinen Minimarkt in ihrem Garten, aus dem wir uns einige Dinge aussuchen durften. Anschließend trafen wir noch auf einige englisch- und deutschsprachige Einheimische von denen uns einer einlud, in einem kleinen Laden alles zu kaufen, was wir für den Abend benötigten. Von Unfreundlichkeit, fehlender Hilfsbereitschaft oder Ablehnung gegenüber Fremden gab es also keine Spur. Im Gegenteil schien es sogar, als seien die Menschen hier wieder sehr viel angenehmer als in den Nachbarländern. Auch in den folgenden Tagen bestätigte sich dieser Eindruck. Bauten wir beispielsweise unser Zelt in Ortsnähe auf und wurden dabei entdeckt, führte dies in diesem Land nicht dazu, dass man uns stundenlang belagerte. Man behandelte uns mit einem höflichen Respekt und näherte sich dem Zelt nur, wenn wir zuvor ein Zeichen gegeben hatten, dass es uns recht war.

An diesem Abend fanden wir eine kleine Wiese zwischen zwei Maisfeldern, die uns relativ gut versteckt erschien. Dennoch wurden wir vom Besitzer der Wiese entdeckt. Er kam, fragte ob es uns gut ginge und ob wir etwas brauchten, wies uns auf eine Wasserstelle zum Waschen hin, wünschte uns einen schönen Aufenthalt und verschwand wieder.

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Das einzige, was uns nun noch fehlte war Trinkwasser. Dafür machte ich noch einmal einen kleinen Rundgang und kam schließlich an das Grundstück eines älteren Mannes, der gerade dabei war, sich mit seiner Kuh anzulegen. Sie nahm in so sehr in Anspruch, dass er mich überhaupt nicht bemerkte. Einen Moment lang sah es so aus, als hätte er sie im Griff. Dann aber riss sie aus, lief auf die andere Seite des Gartens und schubberte ihren Rücken an einem großen Heuhaufen, den der Mann zuvor hier aufgeschichtet hatte. So schnell er konnte rannte er ihr hinterher und versuchte sie zu stoppen. Doch es war zu spät. Der Haufen neigte sich zur Seite und das Heu verteilte sich gleichmäßig im Garten. Mit großen Augen schaute die Kuh ihn an, so als wolle sie sagen: „Ups! Wie konnte denn das passieren?“

Spruch des Tages: Wo ist denn nun dieser Kosovo, von dem immer alle sprechen?

 

Höhenmeter: 350 m

Tagesetappe: 15 km

Gesamtstrecke: 12.337,27 km

Wetter: bewölkt

Etappenziel: Priesterseminar, 87011 Cassano Allo Ionio, Italien

Hier könnt ihr unser und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Nach dem mauen Abendessen versuchten wir unser Glück am kommenden morgen noch einmal mit einem Frühstück. Bei Sonnenschein waren die Menschen wieder weitaus offener und wir bekamen eine Einladung zum Frühstück auf der Terrasse. Der Sohn der Hauswirtin kam kurz darauf mit seiner Familie und begrüßte uns förmlich. Das Gespräch das sich darauf mit ihm entwickelte, war das wohl einfallsloseste, das wir je geführt hatten.

„Wo kommt ihr her?“ begann er die Unterhaltung mit einer selten gehörten und überaus kreativen Frage.

„Aus Deutschland!“ antwortete Heiko.

„Aha!“ sagte der junge Mann und ließ es erst einmal eine Weile auf sich beruhen. Dann nahm er den Faden wieder auf und fragte: „Und aus welchem Land seit ihr?“

„Auch aus Deutschland!“ erklärte ich geduldig. Wieder gab es eine kurze Pause, in der der Mann so tat, als müsse er irgendetwas erledigen. Da ihm jedoch nichts sinnvolles einfiel, gab er es gleich wieder auf, stand eine Weile schweigend neben uns und fragte dann: „Welche Nationalität habt ihr?“

Dieses Mal kostete es uns schon einiges an Mühe, bei der Antwort ernst zu bleiben. „Deutsch!“ sagte Heiko schließlich.

Im Nachhinein betrachtet war es ein bisschen schade, das unser Frühstück schon so schnell beendet war und wir gleich weiterzogen. Welche tiefgreifenden Fragen hätte uns der Mann wohl noch gestellt, wenn wir länger geblieben wären?

Um Montenegro zu verlassen mussten wir nun auf die Hauptstraße wechseln, die aus dem Tal heraus führte. Es war eine große, breite Straße, die jedoch zum Glück nicht allzu sehr befahren war. Gleich als wir sie erreichten, warnte ein großes, rot umrundetes Verkehrsschild davor, dass es Pferdekutschen verboten war, hier auf dieser Straße zu fahren. Gut also, dass wir keine Pferde waren, denn von Menschenkutschen stand da zum Glück nichts.

Als wir das Schild sahen machten wir uns zunächst noch darüber lustig und wir hätten nicht gedacht, dass so ein Schild wirklich einmal notwendig sein konnte. Doch keinen Kilometer weiter wurden wir tatsächlich von einer Pferdekutsche überholt. Das arme Schild! Da stand es nun schon an einem Punkt, an dem es einen Sinn machte und wurde dann einfach ignoriert.

Zunächst bemerkten wir es kaum, weil es keine Serpentinen und auch keine Anhaltspunkte gab, an denen man die eigene Höhe hätte erkennen können, doch nach einiger Zeit fiel uns auf, dass wir schon wieder eine gewaltige Summe an Höhenmetern zurückgelegt hatten. Wir hatten uns schon gefragt, warum es heute so anstrengend war und begannen bereits an unseren Kräften zu zweifeln, als mir ein Blick auf unsere Karte verriet, dass wir nun schon fast 600 Meter höher waren, als bei unserem Frühstück.

Schließlich erreichten wir einen Punkt, der auf meiner Karte wie ein kleines Dorf ausgesehen hatte. Es hätte eigentlich unser Zielort werden sollen, doch wie sich herausstellte handelte es sich nur um eine Ansammlung stillgelegter Ski-Hütten. Auch das Hotel, das so vielversprechend angekündigt wurde, war bereits seit mindestens fünf Jahren tot. Es schien also wirklich zu stimmen, dass sich die Montenegroianer mit der Unabhängigkeit ins eigene Fleisch geschnitten hatten. Der ganze Tourismus war zuvor von den Bewohnern der nordserbischen Großstädte dominiert worden, die nun aus Protest nicht mehr kamen. Ohne sie musste hier alles nach und nach kaputt gegangen sein. Nur die großen Webeschilder standen noch immer und lockten zufällig vorbeikommende Wanderer und Touristen in die Irre.

So anstrengend der Weg bis hierher auch gewesen war, bleiben konnten wir hier nicht. Doch die Verlassenheit der Region hatte den Vorteil, dass es auch fast keine Autos mehr gab, die hier entlang fuhren. So konnten wir es riskieren und statt dem ursprünglich geplanten weg über den Bergkamm der Hauptstraße durch den Tunnel folgen.

Etwas mehr als einen Kilometer führte uns die Straße nun schnurgerade durch den Berg. Licht gab es keines und so wanderten wir in vollkommener Dunkelheit, die wir nur selbst mit unserer Handy-Taschenlampe durchbrechen konnten. An vielen Stellen waren bereits Steine, Schlamm, Sand und Geröll von den Tunnelwänden auf den Boden gefallen und einige Male mussten wir größeren Haufen ausweichen. Einen besonders sicheren Eindruck machte es nicht und wir waren heilfroh, als wir den Tunnel wieder verlassen konnten. Dennoch waren wir auch fasziniert davon, wie baufällig solche Straßentunnel sein konnten, ohne dass es jemanden störte, oder ohne dass etwas passierte. In Deutschland hätte diese Straße nicht einmal gesperrt werden müssen. Sie wäre nicht für die Öffentlichkeit zugelassen worden. Denn es gab weder Fluchttüren noch ein Belüftungssystem. Wenn also wirklich einmal etwas passierte, dann wurde sie definitiv zur Todesfalle.

Auf der anderen Seite wanderten wir noch ein paar Kilometer im Tageslicht, bevor wir ein kleines Dorf etwas abseits der Straße fanden, in dem wir unser Zelt aufschlagen konnten.

Die Nacht und auch der kommende Morgen wurden bitterkalt. Unsere Schlafsäcke wollten einfach keine Wärme hergeben und so konnten wir es uns nur noch damit gemütlich machen, dass wir uns in unsere lange Unterwäsche und in unsere Schlafsackinlays verkrochen. Es bestand kein Zweifel, dass es an der Zeit war, in Richtung Süden zu kommen. Wenn uns mit dem Material hier in den Bergen ein Wintereinbruch erwischte, dann waren wir geliefert. Schmerzlich wurde uns bewusst, dass wir auch unter Idealbedingungen unmöglich weiter mit Paulina hätten Wandern können, wenn wir dadurch unser altes Tempo hätten einhalten müssen. Es war gerade einmal Anfang September und die Nächte waren bereits jetzt schon so kalt, dass es grenzwertig wurde. Wie würde es hier wohl erst im Oktober oder November sein?

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Je stärker wir uns nun der Stadt näherten, desto ungemütlicher wurde die Hauptstraße. Der Verkehr nahm zu und die Rücksicht der Autofahrer nahm dazu proportional ab. Doch wirklich unangenehm wurde es erst, als wir die Stadt selbst erreicht hatten. Sie war laut, hässlich, vermüllt und unerträglich. Kurz gesagt also eine ganz normale Stadt auf dem Balkan. Sämtliche Versuche, einen Hotelschlafplatz aufzutreiben scheiterten wieder einmal an den mangelnden Englischkenntnissen der Hotelangestellten. Bei den kleineren Hotels ließ ich mir das durchaus eingehen, aber das selbst die Rezeptionisten des Grandhotels keinen englischen Satz hervorbrachten, fand ich schon etwas seltsam. Offensichtlich waren fünf Sterne neben der Tür und ein kristallener Kronleuchter in der Hotellobby noch kein Garant dafür, dass man auch einen Service bekam. Für uns war es nicht weiter tragisch, aber wenn ich mir vorstelle, dass ich dort wirklich ein teures Zimmer miete und dann nicht einmal nach einem Wasser fragen kann, dann ist das doch etwas seltsam, oder nicht?

Auf dem Weg aus der Stadt fragten wir uns noch einmal, warum Menschen überhaupt in Städten lebten. Die Frage klingt vielleicht etwas ironisch, aber so war sie nicht gemeint. Was versprechen wir uns davon, uns ganz bewusst an einzelnen Orten zu ballen und uns selbst zu stapeln wie Hühner in einer Legebatterie. Bei den Hühnern reagieren wir mit Mitleid den Tieren und Verachtung den Haltern gegenüber, wenn uns die Zustände bewusst werden. Doch wir selbst nehmen es ohne zu zögern hin, dass wir uns auf engstem Raum zusammenballen und machen dies sogar noch freiwillig und gerne. Was also bringt uns dazu? Es muss ja einen guten Grund geben, dass der Großteil der Menschheit sich ganz bewusst für dieses Leben entscheidet und nicht ein kleines Häuschen auf dem Land wählt, wo es ruhiger und entspannter zugeht. Und selbst wenn wir uns für ein solches Landleben entscheiden, dann sorgen wir meist selbst dafür, dass es auch hier wieder stressig wird und dass die Ruhe von mitgebrachten Geräuschen überdeckt wird. Es scheint also, als wäre es uns wichtig, dass wir uns ganz bewusst im Stress halten. Warum machen wir das? Welcher Grund steckt dahinter? Denn wenn es keinen wirklich guten Grund geben würde, dann würden wir es sicher nicht machen.

Eine Erklärung, die uns dazu einfiel, war der Wechsel zwischen vagotonen und aktiven Phasen, den jedes Lebewesen durchläuft. Jedes Lebewesen oder zumindest jedes Tier, wechselt in der Regel zwischen zwei Phasen, je nachdem welcher Zustand gerade seinem Überleben dient. Nehmen wir beispielsweise einmal eine Maus. Im Normalfall ist sie in ihrem Entspannungszustand. Sie ruht, läuft ein bisschen herum, döst oder schläft. Kommt jedoch eine Gefahrensituation auf, dann wechselt ihr Organismus automatisch in den aktiven Zustand. Ihr Körper produziert Adrenalin, ihr Herz schlägt schneller, um ihren Organismus besser mit Sauerstoff zu versorgen und all ihre Sinne laufen auf Hochtouren. Sobald die Gefahr vorüber ist, wechselt sie sofort automatisch wieder in den Entspannungsmodus und ihr Organismus beruhigt sich wieder. Vorausgesetzt natürlich, sie wurde nicht gefressen. Dann wechselt sie gleich direkt in einen jenseitigen Zustand, den ich jetzt aber unberücksichtigt lassen möchte.

Auch wir Menschen wechseln ständig zwischen diesen beiden Phasen. Wenn wir im Stress sind, Sport machen, unter Strom stehen, eine Prüfung erledigen, arbeiten oder sonst auf irgendeine Art und Weise aktiv sind, sind wir in der sogenannten sympathikotonen Phase. Entspannen wir und, meditieren wir oder schlafen wir, dann kommen wir in den vagotonen oder auch parasympathikonen Zustand. Um wirklich in diesem Zustand zu verweilen müssen wir aber abschalten können. Es reicht nicht, sich kurz einmal hinzusetzen und die ganze Zeit über im Kopf weiter auf Hochtouren zu laufen. Eine Umgebung, die niemals schläft, wie es in Großstädten oft der Fall ist, ist also denkbar ungeeignet um in die vagotone Phase zu geraten. Und genau dies ist wahrscheinlich der Grund, weshalb wir die Unruhe und den permanenten Stress der Städte so lieben.

Auf den ersten Blick ist die vagotone Phase natürlich nicht zu verachten. Wer hat schon etwas gegen Entspannung, Ruhe und Wohlfühlphasen. Doch es gibt eine Sache, die man darüber wissen muss. Die vagotone Phase ist auch die Phase, in der sich unser Körper regeneriert. So lange wir aktiv sind, muss unser Organismus alle Ressourcen zur Verfügung stellen, damit wir auch aktiv bleiben können. Wenn wir gerade vor einem Raubtier flüchten, haben wir keine Zeit um gleichzeitig unsere Darmflora zu bereinigen. Die gesamte Energie wird in die überlebenswichtigen Bereiche des Körpers umgeleitet. Genauer gesagt, die Bereiche, die jetzt im Moment überlebenswichtig sind. Alles, was uns Langfristig gesund hält, wird erst einmal zurück gestellt. Normalerweise dauern diese Phasen nur kurz an und er ist ein Klacks für den Körper, sich davon wieder zu erholen. Doch wir haben es uns angewöhnt, in diesem Zustand zu verweilen und uns kaum noch Zeit zum regenerieren zu geben. Fangen wir jedoch einmal damit an, dann fordert der Körper seine Regeneration förmlich von uns ein. Er spürt, dass er nun Zeit dafür hat und beginnt gleich mit den Reparationsarbeiten. Dies führt dazu, dass wir uns schlaff, erschöpft und müde fühlen, dass wir energielos werden und plötzlich lauter Krankheitssymptome spüren, die zuvor nicht aufgetreten sind. Wir haben also das Gefühl, jetzt Krank zu werden. Dies liegt jedoch nicht daran, dass wir nun wirklich krank werden. Die Krankheitssymptome sind viel mehr Begleiterscheinungen der Heilung. So lange wir aber im aktiven Zustand waren, konnte sich der Körper keine Schwächen leisten, also spürten wir auch nicht, dass es uns schlecht geht.

Diese Erklärung ist natürlich stark vereinfacht, denn auch wenn wir uns im permanenten Dauerstress befinden verschafft sich unser Körper immer wieder Entspannungsphasen in denen er sich zumindest zum Teil regeneriert. So kommt es trotzdem immer mal wieder zu Krankheitserscheinungen. Außerdem gibt es auch einige Symptome, die wir in der aktiven Phase zu spüren bekommen. Doch im Großen und Ganzen ist die aktive Phase, die Phase des Handelns und die passive die des Fühlens und Regenerierens.

Auch wenn wir keine Ahnung von diesem Prinzip haben, spüren wir trotzdem, dass wir durch Entspannung in eine Heilungsphase kommen, die unter Umständen viel Schmerz und Leid bedeuten kann, bis sich unser Körper wieder regeneriert hat. Solange wir aktiv und gestresst bleiben, können wir die Bedürfnisse unseres Körpers unterdrücken, doch sobald wir in die Ruhephase rutschen, bekommen wir die Quittung für diese Selbstvergewaltigung. Dies geht teilweise sogar so weit, dass Menschen Ruhe überhaupt nicht mehr aushalten können. So hat Heiko auf seiner ersten Reise nach Santiago in der Schweiz einen Mann getroffen, der eine Farm mit Kühen betreute. Jede Kuh hatte eine Glocke um den Hals gebunden und zerstörte somit die idyllische Stimmung auf der Alm. Als Heiko ihn fragte, warum er den Tieren und sich selbst das antat, antwortete der Mann: „Es ist für die Touristen! Sie halten es nicht aus, wenn es hier zu leise ist und beschweren sich dann, weil sie nicht schlafen können!“

Nichts anderes machen wir auch in unseren Städten. Wir versuchen mit allen Mitteln zu verhindern, dass wir uns entspannen können, weil wir wissen, dass wir dann spüren, was wir uns selbst tagtäglich antun. Deswegen benötigen wir den Stress, die Highlights, den Trubel, den Lärm und die Reisüberflutung.

Dass dies auf Dauer trotzdem nicht gutgehen kann zeigte sich gleich an einem lebenden Beispiel, ein paar Straßen weiter. Die Kinder in diesem Viertel hatten gerade Schulschluss und folgten uns durch die Straßen. Permanent riefen sie uns etwas zu, wollten irgendetwas wissen, stellten Fragen und machten Witze. Es war jedoch kein einziger Versuch eines ernsthaften Kontaktes dabei, sondern nur eine Aneinanderreihung von aufdringlicher Aufmerksamkeitshascherei. Einen Moment lang ließen wir uns die Flut der Nervensegen gefallen, in der Hoffnung, sie würden von selbst wieder damit aufhören. Dann baten wir sie, uns in Ruhe zu lassen, doch das stachelte sie nur noch mehr an. Es gab kein Gefühl mehr dafür, wie ein angenehmer Kontakt überhaupt aussehen konnte, kein Gefühl dafür, wo die Grenze eines anderen lag und somit übertraten sie sie ohne es überhaupt zu merken. Erst als Heiko mit dem Fuß aufstampfte, laut „HEY!“ rief und sie grimmig ansah, wurde ihnen bewusst, dass sie uns gerade auf die Nerven gingen. Augenblicklich zogen sie sich zurück, hielten einen Moment inne und suchten sich dann eine neue Ablenkung mit der sie sich beschäftigen konnten.

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Außerhalb der Stadt wurde es wieder ruhiger und angenehmer. Die Straße zur Grenze war so gut wie nicht befahren und führte wieder einen neuen Berg hinauf. Noch einmal kamen wir an einen kleinen Ort, in dem wir um etwas zu Essen bitten konnten. Es gab hier nun bereits wieder eine Moschee und die Einwohner waren muslimisch. Wir näherten uns also sichtlich der Grenze zum Kosovo.

Im Wald hinter dem Dorf schlugen wir unser Zelt auf, Wieder wurde es schweinekalt und so beschlossen wir, erneut ein Lagerfeuer zu entzünden, an dem wir uns aufwärmen konnten, bevor wir uns in unser Zelt zurück zogen.

Jetzt, wo es wieder leise war, begann Heikos Ohr zu pfeifen. Auch wir kamen nach der Stadt nun wieder in unsere Entspannungsphase und der Körper zeigte die Symptome der Regenerierung. Doch die lärmende Stadt war kaum der einzige Grund für die Ohrgeräusche. Auch nach der Trennung von Paulina kamen wir nun in eine tiefergehende vagotone Phase, in der alles noch einmal nachwirkte und in uns arbeitete.

Das Feuer erlosch und wir legten uns schlafen. Morgen würden wir Montenegro verlassen und unsere Reise im Kosovo fortsetzen.

Spruch des Tages: Stillness is the altar of spirit – Stille ist der Altar des Geistes.

 

Höhenmeter: 90 m

Tagesetappe: 13 km

Gesamtstrecke: 12.322,27 km

Wetter: bewölkt

Etappenziel: Gemeindehaus der Kirche, 87072 Francavilla Marittima, Italien

Hier könnt ihr unser und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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