Weltreise im Low Budget Wohnmobil

von Franz Bujor
28.05.2022 07:09 Uhr

Seit dem Sommer 2021 befinde ich mich auf einer Weltreise mit einem Low Budget Wohnmobil, das ich mir selbst aus einem alten LKW aufgebaut habe. Warum ich das mache, wie es zu dieser Entscheidung kam, welche Erfahrungen ich bisher sammeln konnte und was Sir Lanzelot zu all dem sagt, verrate ich euch hier in diesem Gastartikel bei den Lebensabenteurern.

 
Perfekte Aussicht: Mit Allrad Lada Taiga am Abgrund

Perfekte Aussicht: Mit Allrad Lada Taiga am Abgrund.

 

Ein Roadtrip im Low Budget Wohnmobil durch Südeuropa

Alles begann 2016 mit der Frage, wie lange man eigentlich bis nach Barcelona fahren würde. War es nah genug, um einfach mal einen Abstecher dorthin zu machen? Oder war dieser Gedanke utopisch?

Ein Blick auf die Karte brachte die Erkenntnis, dass man mit dem Auto in gerade einmal rund 20 Stunden dort sein würde, und so beschlossen mein Kumpel Michael und ich kurzerhand, mit meinem alten Lada Taiga und einem selbstgebauten Dachzelt einen Roadtrip durch Südeuropa zu machen.

Urlaub mit dem Lada Taiga nach Barcelona

Urlaub mit dem Lada Taiga nach Barcelona.

 

Unser Weg führte uns quer durch Österreich, Liechtenstein, die Schweiz, Frankreich, Andorra und Spanien bis nach Barcelona. Auf dem Rückweg ging es dann entlang der Südküste Frankreichs nach Italien und von dort wieder zurück nach Österreich. Die Reise war voller Abenteuer und machte uns mehr Spaß, als wir uns hätten träumen lassen. Sogar der Lada hielt durch und ließ uns nie im Stich.

Na gut, vielleicht einmal abgesehen von dieser einen Situation, bei der wir für ein paar Stunden in Barcelona am Strand feststeckten. Aber wegen genau solcher Abenteuer waren wir schließlich auch aufgebrochen. Und am Ende ist ja auch alles gut gegangen. Auch wenn viele das vielleicht anders sehen würden, gehört der Lada Taiga für mich seither ganz klar auf die die Liste der besten Geländewagen der Welt.

Nur am Strand kam die Offroad-Tauglichkeit des Lada Taiga einmal an seine Grenzen

Nur am Strand kam die Offroad-Tauglichkeit des Lada Taiga einmal an seine Grenzen.

 

Wo der Plan schiefgeht, fängt das Abenteuer an!

Gestärkt durch dieses positive Erlebnis wussten wir, so etwas müssen wir wieder machen! Das Jahr darauf war der Balkan dran. An der Küste ging es runter bis ans Schwarze Meer und über Moldawien, Polen und Tschechien wieder rauf nach Österreich. Bei dieser Reise war schon etwas mehr Abenteuer dabei, angefangen vom kaputten Kühler über Zündfehler des Motors bis hin zu extremen Offroadpisten bei ebenso extremen Wetter, mitten in der rumänischen Wildnis. Wenn du dann mitten im Nichts bei strömenden Regen dein Auto versenkst und dir dabei auch noch die Seilwinde abbrennt, dann hast du zwei Möglichkeiten. Du kannst entweder total verzweifeln oder dich über die Situation freuen. Das klingt jetzt erst einmal merkwürdig, aber in diesem Moment konnte ich tatsächlich spüren, dass ich diese Entscheidung bewusst treffen musste. Gebe ich mich meinen Gedankenstimmen der Angst hin und verfalle in Panik, oder nehme ich die Herausforderung an und mache mich voller Tatendrang und Entdeckungsfreude auf die Suche nach einer Lösung.

Die Balkan-Reise: Mit dem Lada Taiga durchs Dickicht

Die Balkan-Reise: Mit dem Lada Taiga durchs Dickicht.

 

Ähnlich war es auch bei einer Fahrt durch die Pyrenäen, als uns plötzlich und vollkommen unerwartet die Lichtmaschine verreckte. Zum Glück waren wir vorbereitet und hatten für solche Fälle eine zweite als Ersatz dabei - Nur um dann festzustellen, dass diese ebenfalls nicht funktionierte. Also mussten wir improvisieren. Weil zu allem Überfluss draußen noch ein Unwetter tobte, zogen wir uns auf eine öffentliche Toilette zurück und bauten uns aus einem Gasbrenner und einem Taschenmesser einen MacGyver-Lötkolben, mit dessen Hilfe es uns gelang, die Bürsten so umzulöten, dass wir aus den zwei kaputten Lichtmaschinen eine funktionierende machen konnten.

Mit diesem improvisierten Lötkolben, ...

Mit diesem improvisierten Lötkolben, ...

... konnte der Lada wieder repariert werden.

... konnte der Lada wieder repariert werden.

 

Ich könnte jetzt noch unzählige solcher Situationen schildern, in denen ich vor der gleichen Entscheidung gestanden bin. Aber die Erkenntnis für mich war und ist immer wieder dieselbe:  In diesen Momenten zählt nur das Jetzt, alles Andere, alle Alltagssorgen sind egal. Das hat auch etwas unglaublich befreiendes! Mann muss sich nur um sein Auto und die Situationen kümmern, in die man sich damit bringt. Ob nun gewollt oder manchmal auch nicht.

 

Reisen als Lebenssinn

Es folgten mehrere Roadtrips mit meinem kleinen Low Budget Wohnmobil, zunächst wieder mit Michael, später dann mit Christian, einem anderen Freund. Dabei zog es uns ebenfalls wieder hauptsächlich nach Südeuropa und in den Balkan. Auch beim Pothole Rodeo sind wir zweimal gestartet. Insgesamt bereisten wir auf diese Weise rund 30 verschiedene Länder. Für mich wurde immer mehr klar, dass das für mich der Sinn des Lebens ist. Ich will kein Haus, keinen festen Job und keine zwei Kinder, wie es mir die Gesellschaft vorschreibt. Ich möchte die Freiheit spüren, indem ich einfach überall hin fahren kann, wo ich möchte. Ich will die Welt mit eigenen Augen sehen und fühlen und die Leute, Länder und Kulturen in echt und selbst erleben. Nicht, wie es in Film und Fernsehen gezeigt wird. Ich wusste schon immer, irgendwann mache ich eine Low Budget Weltreise und dafür möchte ich mir den Traum vom Allradwohnmobil erfüllen.

Die Trips in den Folgejahren mit dem Low Budget Mobil wurden noch um einiges abenteuerlicher

Die Trips in den Folgejahren mit dem Low Budget Mobil wurden noch um einiges abenteuerlicher.

 

Low Budget Weltreise mit dem LKW?

Der Lada Taiga wahr aufgrund seiner Einfachheit und Größe ein super Fahrzeug für Offroadtouren, aber für eine Weltreise wäre er mir dann doch zu klein gewesen. Und weil ich keine halben Sachen mache, entschloss ich mich, einen gleich einen richtigen Lkw zu kaufen und nicht erst einen Bus auszubauen. Für mich war es schon lange klar gewesen, dass ich einen Mercedes-Benz 1017 haben möchte. Wie ich das ganze finanzieren sollte, war mir noch unklar, aber ich glaubte an das Gute im Leben und an das Gesetz der Anziehung. Wenn mich das Schicksal in Situationen wie damals im Schlamm in Rumänien nicht im Stich gelassen hatte, dann würde es das auch jetzt nicht tun. Und so wusste ich, es wird alles gut gehen. Ich suchte im Internet schon einige Zeit nach passenden Modellen, doch nachdem der Entschluss einmal fest getroffen war, musste ich nicht mehr lange weiter suchen. Durch einen glücklichen Zufall lernte ich Oliver kennen, der mir mit seiner Erfahrung zu Seite stand. Dank seiner Hilfe war der passenden Lkw schnell gefunden und auch genau das, was ich wollte. Ich glaubte an mein Gefühl und habe den LKW noch in derselben Woche gekauft. 12000 € hatte ich gespart und der LKW kostet mich bereits 9990 €. Da blieb also nicht viel übrig, um ihn auszubauen, außer meiner eigenen Arbeitskraft. Aber ich glaubte dran, dass es schon alles irgendwie funktionieren würde.

Das neue Expeditionsmobil ist einsatzbereit!

Das neue Expeditionsmobil ist einsatzbereit!

 

Ein Expeditionsmobil aus einem LKW bauen

Die Heimreise von Deutschland mit dem LKW war gleich mal ein 16-stündiges Abenteuer, das ich gemeinsam mit meinem alten Freund Christian erlebte. Einen LKW-Führerschein habe ich mit 18 Jahren klugerweise gemacht, aber außer in der Fahrschule bin ich eigentlich mit keinem LKW mehr gefahren...

Nun baue ich seit 2019 an meinem LKW in dem ich seit Juni 2021 auch dauerhaft zusammen mit meinem Kater Sir Lanzelot lebe. Den LKW wahr ursprünglich ein Tanklöschfahrzeug mit Doppelkabine und einem 2500-Liter-Wasser-Tank. Anfangs hieß es zuerst einmal, alles Unnötige muss runter und das Fahrerhaus muss gekürzt werden. Ich bin gelernter Bauspengler und bin der Meinung das jeder alles schaffen kann, wenn er nur wirklich an sich glaubt. Den gesamten Umbau, mit allen anfallenden Arbeiten, über Schweißen bis zu Hydraulik, Tischlerarbeiten, Elektronik und Wasserinstallation, habe ich alles alleine oder gemeinsam mit meinem Vater bewältigt.

Das Expeditionsmobil ist nun permanenter Wohnsitz von Martin und Sir Lanzelot

Das Expeditionsmobil ist nun permanenter Wohnsitz von Martin und Sir Lanzelot.

 

Die Eckdaten zum LKW:

  • Gewicht: 10t
  • Leistung: 170Ps
    Unterwegs mit dem Expeditionsmobil

    Unterwegs mit dem Expeditionsmobil

  • Tankvolumen: 475 l Diesel, 400l Trinkwasser, 120 l Grauwasser, 10 l Warmwasser
  • Heizung: je 2 kW elektrische Standheizung für Fahrerkabine und Koffer + Split Klimaanlage + Holzofen
  • Stromspeicher: 200Ah LiFePo4-Akkus
  • Stromgewinnung: 1000 Wp Solaranlage
  • Ausstattung: Außendusche, Toilette, Trommelwaschmaschine, Bett mit 140 x 200, Couch in U Form 200x140x70, Esstisch für 2 Personen
  • Abmessungen: Koffer innen 2,11 x 4,25 und 2,10 m Stehhöhe.
  • Als Wohnkoffer dient ein Aufbau eines Trockenfrachttransporters.
Expeditionsmobil am Strand

Expeditionsmobil am Strand.

 

Leben im selbst gebauten Low Budget Allrad-Wohnmobil

Ich habe alles selbst geplant und umgesetzt, wobei “geplant” vielleicht etwas viel gesagt ist. Letztlich hatte ich ein paar Skizzen und Berechnungen zu Papier gebracht, und schon ging es los. Wichtig war mir vor allem, dass ich mich in der fertigen Kabine auch wohlfühle, daher wahr für mich klar, keine weißen Hochglanzschränke, sondern alles aus Holz und möglichst naturbelassen. Ich bin mit dem Ergebnis sehr glücklich und fühl mich sehr wohl auf meinen gut 7 m², die ich nun auch schon seit Juni 2021 auch dauerhaft mein Zuhause nenne. Besonders froh bzw. stolz bin ich darauf, dass ich die Dusche und das WC getrennt habe und auch das Bett mit der Seilzug Konstruktion ermöglichte es, eine große Liegefläche und zudem eine gemütliche Couch unterzubringen. So können auch mal 2 - 3 Leute zu Besuch kommen und man findet noch Platz. Ein Blickfang ist bestimmt auch der alte Holzofen, den ich nur durch Zufall geschenkt bekommen habe und der gleich perfekt gepasst hat. Er hatte tatsächlich genau die richtige Größe für den Bereich, den ich dafür freigelassen habe.

Man sieht also, alles fügte sich zusammen, auch wenn man sich nicht zuvor ewig den Kopf darüber zerbricht, sondern einfach nur mit positiver Energie an eine Sache herangeht. Man muss wissen, was man tut und darauf vertrauen können, dass es gelingt, dann wird es einem auch gelingen.

Die Küche im Expeditionsmobil

Die Küche im Expeditionsmobil.

 

Weltreise mit Katze

Zuletzt fügte ich noch ein sehr wichtiges Element zu meinem LKW-Home hinzu: Einen selbstgebauten Kratzbaum für meinen Kater Sir. Lanzelot, der ja auch wie ich zu einem permanenten Bewohner des Expeditionsmobils wurde. Auch er liebt das Reiseleben genauso wie ich und er fühlt sich richtig wohl im LKW. Das war auch schon während des Ausbaus so, wo er natürlich fast immer dabei wahr und  wo er sich bereits in der Roh-Kabine so verhielt, als wäre er hier zuhause. Er lief schnurrend durch die Gegend oder lag auf seiner Decke, vollkommen unbeeindruckt von Stichsäge, Bohrmaschine und Co.

Unterwegs mit Reisekatze Sir Lanzelot

Unterwegs mit Reisekatze Sir Lanzelot.

 

Wie finanziert man eine Weltreise im Low Budget Wohnmobil

Auf meiner Facebook Seite gibt es auch in Kürze eine detaillierte Auflistung aller Kosten und der Arbeitszeit, die ich in das Projekt hineingesteckt habe. Mittlerweile werden es ca. 55000 € sein, inkl. Kaufpreis des LKWs. Wenn ihr mich jetzt fragen würdet, ob ich mir das leisten kann, würde ich sagen nein! Doch wie es aussieht, konnte ich es am Ende doch irgendwie. Auch dafür spielte mir das Leben wieder in die Karten, auf verschiedene Art und Weise. So wechselte ich beispielsweise aus augenscheinlich zufälligen Gründen 2021 die Firma. Ich wusste es bei der Entscheidung nicht, aber es stellte sich heraus, dass ich dadurch einen riesigen Berg an angesammelten Überstunden plötzlich ausgezahlt bekam, die ich sonst nur hätte abbummeln dürfen. Dadurch hatte ich eigentlich immer genug Geld, um den Aufbau voranzutreiben und wenn mal kein Geld da wahr, dann gab es noch immer genug Arbeit, die "nur" Zeit kostete, sodass ich dennoch stets vorankam.

Wohnzimmer im Expeditionsmobil

Wohnzimmer im Expeditionsmobil.

 

Wie ist das Leben im Low Budget Wohnmobil?

Alles in allem bereichert das Wohnen und Reisen in meinem selbstgebauten Low Budget Wohnmobil und dessen Aufbau selbst, mein Leben ungemein. Ich konnte mir damit selbst beweisen, dass ich alles schaffen kann, wenn ich es möchte. Oft werde ich gefragt, ob das Leben im LKW mit wenig Geld nicht ein großer Verzicht auf Luxus und Komfort ist und eine Menge Entbehrungen mit sich bringt. Ich denke, das ist aber vor allem eine Frage der Perspektive. So wie es für einen Bürger aus der österreichischen Mittelschicht “Verzicht und Entbehrung” bedeutet, ist mein Low Budget Wohnmobil an vielen anderen Orten der Welt Hightech und Luxus pur. Ich selbst sehe es eher als eine Befreiung von so vielen alltäglichen Sachen, die rund um ein Haus oder Wohnung anfallen. Ich habe bei meinem Auszug aus der Wohnung nur einen kleinen Teil meiner Kleidung und zwei bis drei Erinnerungsstücke mitgenommen, der Rest liegt seither in der Garage meiner Eltern und wird verkauft oder verschenkt. Oft habe ich den Eindruck, dass ein Mensch umso glücklicher ist, je weniger er besitzt. Auf mich trifft das in jedem Fall zu, denn mit jedem Stück Ballast, das ich loswerden durfte, fühlte ich mich freier. Und wenn man alles, was man besitzt, ständig mit sich führen muss, bekommen die Dinge eine andere Bedeutung. Reichtum bedeutet dann nicht mehr, so viel Kram wie möglich anzusammeln, sondern optimal mit dem zurechtzukommen, was man bei sich hat.

Unterwegs mit Reisekatze Sir Lanzelot

Unterwegs mit Reisekatze Sir Lanzelot

 

Wo führt die Low Budget Weltreise hin?

Was meine Weltreise in dem Low Budget Wohnmobil anbelangt, halte ich es genauso, wie ich es auch schon beim Aufbau gemacht habe. Ich zerbreche mir nicht lange den Kopf mit einer Reiseplanung, sondern fahre dorthin, wo es mich gerade hinzieht. Das bedeutet es für mich, wirklich frei zu sein. Die Welt liegt offen vor mir und wenn ich Lust auf einen Ausflug ans Meer habe, dann fahre ich an irgendeinen schönen Strand. Oder es zieht mich in die Berge, in die Steppe oder wieder mal auf einen Roadtrip durch Europa. Es wird sich zeigen, und wenn ihr es mitverfolgen wollt, dann findet ihr alle Informationen darüber auf meiner Facebook-Seite!

Eine große Landkarte gehört in jedes Weltreise-Expeditionsmobil!

Eine große Landkarte gehört in jedes Weltreise-Expeditionsmobil!

 

Wir sehen uns!

Viel Spaß und Lebensfreude

Martin Strohmer

 

Bildergalerien

Hier bekommt ihr noch ein paar weitere Impressionen von meinen Reisen mit dem Lada Taiga:
Weltreise mit dem Auto

Für eine Weltreise mit dem Auto ist der Lada Taiga dann vielleicht doch etwas zu klein.

  Hier ist noch der Rest meiner Roomtour durch das große Expeditionsmobil:  
Ich liebe meinen Lada Taiga

Eine dicke Umarmung für einen treuen eisegefährten!

 

Andere Weltreisende:

Hier findet ihr noch spannende Artikel von anderen Reisenden, die auf ausgefallene Art unterwegs sind:  

Bildquellen:

© Martin Strohmer  

Kurz bevor wir die Grenze erreichten kamen wir doch noch durch ein winziges Dorf. Es war nicht so unheimlich wie das letzte, dafür aber wesentlich touristischer. Es bestand eigentlich nur aus einem kleinen Marktplatz mit einigen Verkaufsständen, einem Campingplatz und einem Kloster, das gleichzeitig als Hotel verwendet wurde. Wir stellten unsere Wagen ab und besichtigten das Klostergelände. Von hier aus hatte man einen hervorragenden Blick über den See, bis hinüber zur albanischen Seite und weit zurück bis nach Ohrid. Am spannendsten waren jedoch die vielen kleinen Eichhörnchen, die im Park ihre Nüsse verbuddelten. Das Eichhörnchen das tun weiß jedes Kind, aber wie selten bekommt man die Gelegenheit, ihnen dabei wirklich einmal zuzuschauen?

Als wir das Parkgelände wieder verlassen wollten wurden wir von zwei humorlosen Männern aufgehalten. Sie teilten uns unmissverständlich mit, dass wir auf dieser Seite nicht weiter gehen konnten, denn das angrenzende Gelände war eine Militärbasis. Die Mazedonier hatten schon einen eigenartigen Sinn für die Verteilung ihrer Infrastruktur. In einem Moment steht man noch an einem heiligen Ort, der gleichzeitig eine der größten Touristenattraktionen des Landes ist und drei Meter weiter beginnt ein militärisches Sperrgebiet. Und irgendwo in der Mitte liegt dann noch der Campingplatz, an dem sich die Urlauber tummeln.

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Auch wenn Freundlichkeit vielleicht nicht gerade seine herausragendste Eigenschaft war, war der Mann doch freundlich genug um uns einen Schleichweg zu zeigen, auf dem wir die Militärbasis umrunden konnten, ohne ganz zurück auf die Hauptstraße zu müssen. Von hier aus waren es nun nur noch wenige Kilometer bis zur Grenze.

Dieses Mal merkte man den Übertritt zunächst fast gar nicht. Der Grenzposten wirkte fast eher wie einer der Souvenirstände an der Promenade, nur dass man hier nicht einfach vorbeigehen konnte, ohne seinen Ausweis zu zeigen. Danach änderte sich zunächst einmal nichts. Wieder kamen Hotels und Restaurants, die sich am Ufer aneinander ketteten. Auch hier legte man keinen Wert darauf, den Müll irgendwo zu entsorgen, wo er den Augen und Nasen der Menschen verborgen blieb. Es war sogar noch etwas schlimmer als zuvor und das obwohl wir nicht geglaubt hätten, dass es nach Mazedonien noch einmal eine Steigerung geben konnte. Der Gipfel des Umwelthohns war ein fünf Sterne Hotel, das seine Abwässer direkt vor der eigenen Eingangstür in den See leitete. Links und rechts neben dem großen Abwasserrohr standen sie Liegestühle und der hauseigene Kiosk, an dem man Eis und Süßwaren kaufen konnte, war keine drei Meter entfernt. Bereits die ersten dreißig Meter genügten also um sicher zu sein, dass das Wasser in diesem Land auch wieder nicht trinkbar war.

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Nachdem wir die kurze Hotelmeile verlassen und ins Hinterland abgebogen waren, änderte sich das Bild dann doch noch. Albanien präsentierte sich uns nun als eine Mischung aus modernem Großstadtslum und mittelalterlicher Bauernkultur. Wir waren gleichzeitig fasziniert und entsetzt davon, dass wir uns noch immer mitten in Europa befanden. Wären wir in Indien oder Pakistan gelandet, hätten wir genau dieses Bild erwartet, aber hier?

An den Flüssen türmte sich der Müll zu langen Wällen auf. Asphaltiert waren nur die Hauptstraßen, während fast alle Nebenstraßen, selbst innerhalb der Ortschaften, aus reinem Schotter und Sand bestanden. Am meisten aber beeindruckten uns die Esel. Wir hatten schon zuvor immer mal wieder einen oder zwei Esel gesehen und im Balkan war es keine Seltenheit, dass man sie als Arbeitstiere gebrauchte. Doch in dieser Menge war es etwas Neues für uns. Überall auf den Feldern standen die Menschen mit ihren Eseln. Einige zogen eine Art Pflug, andere kleine oder große Karren mit Feldfrüchten und wieder andere waren mit Körben bepackt. Wenn sie richtig arm dran waren, mussten sie sogar den Bauern tragen. Im Normalfall jedoch stand der Bauer neben dem Esel und hielt ihn am Zaumzeug, während die Frau die Feldarbeit erledigte. Vieles in diesem Land blieb uns bis zum Schluss ein Rätsel, aber die Arbeitsaufteilung verstanden wir sofort. Körperlich leichte Aufgaben übernahm der Mann, für schwere gab es die Esel und für richtig schwere hatte man ja seine Frau.

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Die Esel ersetzten die Traktoren, Autos und Fahrräder nicht komplett, aber zu einem großen Teil. Wenn man von A nach B wollte dann war es ebenso normal auf seinem Esel zu reiten oder sich auf die Kutsche zu setzen, die von einem oder zwei Eseln gezogen wurde, wie mit dem Auto oder mit dem Fahrrad zu fahren. Das einzige, was den Menschen fremd zu sein schien war es, zu Fuß zu gehen. Lieber nahm man all sein Gepäck in die Hand, setzte sich auf den Esel und zog die Beine bis zum Kinn an, damit sie nicht am Boden schleiften. Selbst wenn man dadurch einen Krampf bekam und sich drei Tage lang nicht mehr bewegen konnte, hatte man dennoch gezeigt, dass man ein kraftvolles Lasttier besaß und es nicht nötig hatte, seine eigenen Beine zu benutzen.

Wer etwas mehr Wohlstand besaß, konnte sich eine Kutsche leisten und sich hinter den Esel, oder in besonders seltenen Fällen sogar hinter das Pferd setzen.

Wir schlugen unser Zelt mitten in den Feldern auf, so dass die Straßen in alle Richtungen möglichst weit von uns entfernt waren. Es gab hier zwar weniger motorisierte Fahrzeuge als in vielen anderen Ländern, doch die die es gab, waren dafür umso lauter. Meist waren es kleine Traktoren, die eher an übergroße Rasenmäher erinnerten und deren Motoren vollkommen frei zwischen den kleinen Vorderreifen lagen. Wir hatten solche Gerätschaften auch in den anderen Balkanländern schon oft gesehen, doch hier schienen sie am häufigsten und gleichzeitig auch am lautesten zu sein. Dabei tuckerten sie ganz gemütlich mit ca. 6km/h vor sich hin, fast so als würde die Energie des Kraftstoffes eins zu eins in Lautstärke umgewandelt, so dass für Geschwindigkeit nichts mehr übrig blieb.

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Die Menschen, die ich bei meiner Essenssuche kennenlernte waren größtenteils sehr nett, doch die Verständigung mit ihnen gestaltete sich deutlich schwieriger als erwartet. Anders als im Kosovo sprach hier so gut wie niemand eine andere Sprache. Kein Deutsch, kein Englisch, kein Italienisch, ja nicht einmal Serbisch. Als einzige Kommunikationsmöglichkeit blieb also nur noch mein Zettel mit den vorbereiteten Sätzen. Dafür muss man aber sagen, war ich sehr erfolgreich.

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Weit schwieriger als die Nahrungssuche gestaltete sich jedoch die Aufgabe, Wasser aufzutreiben. Leitungswasser wäre kein Thema gewesen, doch wir wollten es nach Möglichkeit vermeiden, uns zu vergiften. Doch um Flaschenwasser zu bekommen brauchte ich Bars, Tankstellen, Supermärkte, Tante-Emma-Läden oder wenigstens einen Kiosk. Diese waren jedoch mehr als nur Mangelware. Sie waren Raritäten, mit denen man hier locker auf dem Schwarzmarkt hätte dielen können. Als ich schließlich einen Minimarkt in einer kleinen Holzhütte fand, war ich fast drei Kilometer weit gewandert. Nun hatte ich das nächste Problem, denn den Satz „haben sie eine große Wasserflasche?“ hatte ich nicht auf meinem Zettel vermerkt. Mit Händen und Füßen versuchte ich der verwirrten Verkäuferin klarzumachen, was ich wollte. Auf Wasser kamen wir schnell, doch sie hatte nur Miniflaschen im Regal und ich musste ihr irgendwie verständlich machen, dass ich einen Kanister brauchte. Schließlich verstand sie mich und kramte ganz unten aus der hintersten Ecke eines versteckten Regals einen 5l-Kanister Wasser hervor. Er musste ewig dort gestanden haben, denn die Staubschicht auf seiner Oberfläche war fast einen Zentimeter dick. Sie nannte mir einen Preis und erst in diesem Moment wurde mir klar, dass wir mit der Grenzüberschreitung auch wieder eine neue Währung bekommen hatten. Meine Mazedonischen Dinara waren hier wertlos, doch albanisches Geld besaß ich noch keines.

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„Euro?“ fragte ich vorsichtig.

„Po!“ sagte die Frau. Als Deutscher könnte man meinen, dass dies soviel war wie die Kurzform von „Leck mich am Arsch!“ aber auf albanisch bedeutete es wirklich einfach „Ja!“

Nun aber stand ich vor den nächsten Problem, den unsere Euro beliefen sich auch nur noch auf ein paar Cent. Ich schüttete alles aus was ich besaß und die junge Frau schaute es sich genau an.

„Mira!“ sagte sie dann lächelnd – „In Ordnung!“

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Ich glaube, dass ihr mein Auftritt und die ganze verworrene Situation bereits Bezahlung genug waren. Auch die Oma, die bislang schweigend in der Ecke gesessen hatte, amüsierte sich köstlich. Zum Abschied stand sie auf, gab mir die Hand und schenkte mir sogar noch einen Schokoriegel obendrauf.

So ruhig unser Platz in den Feldern zunächst auch gewirkt hatte, so sehr zeigte sich, später, dass hier ein reger Durchgangsverkehr herrschte. Ständig kamen Bauern und Hirten vorbei, schauten, staunten, fragten alle möglichen, unverständlichen Dinge und gingen wieder. Ich hatte mich zum Schreiben in den Schatten eines Baumes gesetzt, was sich im Nachhinein nicht als allzu gute Idee herausstellte. Denn dadurch konnte nun jeder sehen, dass wir Laptops bei uns hatten. Ein älterer Mann kam und fragte mich regelrecht aus. Das ich auf all seine Fragen mit „Ich verstehe dich nicht!“ antworten musste, schreckte ihn nicht ab. Er blieb einfach stehen und schaute mich an. Der zweite war sogar noch dreister und setzte sich drei Zentimeter neben mich, um mir beim Schreiben mit in den Bildschirm zu starren. Ich bat ihn mehrmals zu gehen und jedes mal nickte er höflich, um dann doch sitzen zu bleiben. Erst als ich wütend wurde und ihn anfuhr stand er auf und verabschiedete sich. Kurz darauf kam der Dritte. Er hielt zwar mehr Abstand, war aber noch weitaus unangenehmer als die anderen. Missmutig starte er meinen Computer an und wiederholte immer wieder vorwurfsvoll „Deutschland viele Geld! Viele Geld in Deutschland!“

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Eine junge Frau auf dem Fahrrad kam in diesem Moment vorbei und schaute mich mitleidig an.

„Du Depp!“ schnauzte mich meine Verstandsstimme an als der Mann verschwunden war, „wie kommst du auch auf die Idee, dich in so einem Land öffentlich mit einem teuren Computer hinzusetzen? Dass muss doch Neid wecken!“

Später am Abend kam die junge Frau noch einmal zurück.

„Darf ich euch kurz stören?“ fragte sie auf Englisch, „Ich glaube ihr habt euch hier einen sehr gefährlichen Platz ausgesucht. Ich habe vorhin mitbekommen, was der Mann gesagt hat und ich könnte mir vorstellen, dass er euch ausrauben will. Nachts ist hier draußen auf den Feldern niemand, der euch beschützen kann. Geht lieber in die Stadt und zeltet dort im Park, da ist es sicherer!“

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Wir bedankten uns für die Warnung und dachten eine Weile darüber nach. Die Sorge war nicht ganz unberechtigt, wenngleich ihre Alternatividee natürlich wahnwitzig war. Wenn es einen Platz gab, an dem wir mit Sicherheit überfallen worden wären, dann war es der Park inmitten einer Großstadt. Der Mann hatte zwar etwas zwielichtig gewirkt und er war ganz sicher kein Sympathieträger, aber er war alt und gebrechlich gewesen. Nachts würde er sich nicht hier aufs Feld hinauswagen und wenn doch dann war er kein ernstzunehmender Gegner. Wir stuften die Situation daher als sicher genug ein, um die Nacht hier zu bleiben. Doch in Zukunft würden wir genauer darauf achten, dass niemand mitbekam, was für Werte wir bei uns trugen.

Spruch des Tages: So viele Esel auf einem Haufen.

 

Höhenmeter: 180 m

Tagesetappe: 14 km

Gesamtstrecke: 12.539,27 km

Wetter: sonnig aber kühl

Etappenziel: Altes Pfarrhaus, 88833 Santa Rania, Italien

Hier könnt ihr unser und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Ich weiß, ich habe bereits vor Tagen geschrieben, dass all unsere Sachen nass wurden und ich weiß, ich wiederhole mich damit. Aber die Nässe machte es ja auch. Immer wieder trocknete die Sonne alles ein bisschen an und wenn wir gerade das Gefühl bekamen, wir wären kurz vor einem neuen Trockenheitsrekord, fing es entweder zu regnen an, oder der Morgentau erledigte das übrige. Langsam wussten wir nicht einmal mehr, wie sich trockene Socken anfühlten und an die vier bis zehn zusätzlichen Kilo an Wasser im Zelt hatte Heiko sich bereits so sehr gewöhnt, dass er glaubte, das Zelt habe schon immer so viel gewogen. Doch nicht nur an unserem Material, sondern auch an uns selbst zerrte das permanente Draußen sein. Es war nun fast ein halbes Jahr her, seit wir das letzte Mal regelmäßige Indoorschlafplätze zur Verfügung hatten. Solange es Sommer war, war das kein Problem gewesen, doch die permanente Nasskälte führte dazu, dass wir immer häufiger Verspannungen und Rückenschmerzen bekamen. Unsere Muskeln Knochen sehnten sich danach, wieder einmal in einem Bett zu schlafen oder sich zumindest einmal wieder richtig entspannen und lockern zu können.

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Aber genug gejammert.

Denn der Tag wurde großartig und langsam verstanden wir, was die großen Plakate mit der Naturschönheit in Mazedonien gemeint hatten. Der Nationalpark lag zwar längst hinter uns, doch der Canyon, den wir heute durchwanderten überraschte uns mit einem Naturschauspiel, das wir so bislang noch nicht gesehen hatten. Der Fluss hatte das Tal stufenförmig ausgewaschen und so ein Landschaftsbild erschaffen, das mit Worten kaum zu beschreiben ist. Zum Glück hatten wir ja unsere Kamera dabei, so dass ihr euch selbst einen Eindruck verschaffen könnt. Inmitten dieser einzigartigen Landschaft lebten ganze Heerscharen an Fischen, Wasservögeln und allen denkbaren anderen Tieren. Hautnah durften wir Kormoranen dabei zusehen, wie sie unter Wasser auf die Jagd gingen und anschließend ihr Gefieder am Ufer trockneten. Auch Graureiher ließen sich den Reichtum des Flusses schmecken und auf den abstrakten Felsformationen am Ufer saßen unzählige Raben und Krähen, die sich wie ein schwarzer Teppich aneinander drängten.

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Schließlich verließen wir das Tal und gingen über einen schmalen Pass seitlich in einen weiteren Canyon ab. Von hier aus ging es dann über eine alte, verfallene Straße steil den Berg hinauf bis in ein winziges Dörfchen. Wir zelteten mitten im Ort hinter einem Maisfeld. Ungesehen blieben wir dabei nicht, aber nachdem jeder einmal geschaut hatte, wer wir sind und nachdem wir kurz erzählt hatten, warum wir da waren, ließ man uns in Frieden dort zelten. Als neue, stattlich anerkannte Maskottchen des Dorfes bekamen wir sogar im Handumdrehen genug zu essen für den Abend und den nächsten Morgen.

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Kurz nach Sonnenaufgang setzten wir unsere Reise fort und stiegen weiter den Berg hinauf. Hinter dem Dorf wurde der Berghang immer steiler, doch die Straße verlief nun halbwegs parallel dazu. Hier oben war es nun so friedlich wie selten zuvor im ganzen Balkan. Die herbstliche Sonne schien auf uns herab und erfüllte uns mit angenehmer Wärme. Ein paar Vögel zwitscherten und der leichte Wind sorgte für ein leises Rauschen in den Bäumen. Sonst war es still. Kein Motorenknattern, keine Bohrmaschine und kein Freischneider. Wir hatten fast vergessen, wie angenehm das war. Rechts von uns erhob sich das felsige Massiv des Berges. Links von uns fiel der Hang steil in ein grünbewaldetes Tal hinab. So schön konnte die Welt sein, wenn man sie nur ließ. Es stimmte, was in den weisen Schriften geschrieben stand. Man musste nichts tun, um Glück oder Frieden zu erlangen. Man musste es einfach geschehen lassen. Der Frieden war bereits da und es war unsere aktive Arbeit, die verhinderte, dass wir ihn wahrnehmen konnten.

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Unter einem kleinen Vordach machten wir ein Picknick um die Stille so ausgiebig zu genießen, wie es möglich war. Dann stiegen wir ins Tal hinab und gelangten in eine weitere Flachebene. Mit der Friedlichkeit war es nun vorbei. Sobald die Menschen die Chance hatten, eine Fläche zuzubauen, nutzten sie sie. Das war auch hier der Fall. Die natürliche Idylle wurde durch Straßen, Häuser, Autos und viel zu viele Menschen ersetzt. Doch auch hier fanden wir einen ruhigen Flecken Erde. In der Mitte zwischen der Autobahn und einer Schnellstraße gab es eine kleine Mulde in den Weinfeldern. Sie schirmte die Geräusche weitgehend ab und bot einiges an Sichtschutz. Außerdem gab es hier ein nahegelegenes Restaurant, dessen Besitzer uns seinen Internetzugang zur Verfügung stellte, damit wir unseren Weg durch Albanien heraussuchen konnten. Bis zur Grenze waren es nun nur noch rund 50 Kilometer.

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Am nächsten Morgen durchquerten wir die Flachebene, bis wir auf der Gegenüberliegenden Seite an einen großen See gelangten. Die Städte und Dörfer wurden nun etwas schöner und auch nobler. Alles wirkte zusehends gepflegter und das permanente Gefühl, durch einen Slum zu wandern, verschwand allmählich. Jedenfalls bis wir Ohrid erreichten. Die größte Stadt am Ufer des gleichnamigen Sees war wohl auch die bekannteste von ganz Mazedonien und sie wurde uns als Touristenziel sowohl von der Australierin als auch von dem Radfahrer aus England empfohlen. Auf den ersten Blick konnten wir diese Empfehlung nicht nachvollziehen. Auf den zweiten auch nicht. Wir waren wieder im üblichen Großstadtsumpf angekommen, in dem die Menschen in grässlichen Plattenbauten wie Legehennen aneinander gepfercht worden waren. Die Hauseingänge waren mit Graffiti besprayed und vielerorts waren sogar die Scheiben eingeschlagen und die Türen zertreten. Es stank nach Abfall und Urin.

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Dann aber kamen wir um eine Kurve und ohne jede Vorwarnung standen wir plötzlich mitten in einer ansehnlichen Altstadt. Über unseren Köpfen thronte eine alte Burg auf dem Gipfel eines kleinen Berges und vor uns lag eine Einkaufsstraße mit Fußgängerpassage und vielen kleinen Lädchen. Es gab Plätze, Restaurants, eine Uferpromenade und sogar einige alte Bauwerke, die wirklich schön und sehenswert waren.

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Am Ufer mit Blick auf die Burg legten wir eine Pause ein und aßen den Rest der Brotzeit, die wir zuvor von einem freundlichen und großzügigen Ladenbesitzer bekommen hatten. Um uns herum wuselten die Touristen, die sich die Stadt und ihre Sehenswürdigkeiten anschauten. Sogar ein paar Deutsche waren darunter.

Wir kamen uns vor wie in einer fremden Welt. Alles erschien irgendwie unwirklich. Es war, als wären wir wie durch eine Art Schleuse in eine andere Dimension gelangt, die nichts mit dem Land zu tun hatte, das wir die letzten Tage durchwandern durften. War es nicht verrückt, dass die Touristen an diesen Ort kamen, sich hier das Zentrum und den See anschauten und anschließend glaubten, dies sei Mazedonien?

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Als wir weiterwandern wollten, fielen uns im Wirrwarr der Spaziergänger zwei Männer auf, die aus der Masse hervorstachen. Sie hatten jeweils ein Rad mit einem Haufen Gepäck bei sich und wirkten, als wären sie auch schon eine ganze Weile unterwegs. Unsere Vermutung bestätigte sich, denn sie erzählten uns, dass sie aus Belgrad stammten und bereits seit einigen Wochen umherfuhren. Sie hatten sich erst auf dem Weg getroffen und reisten nicht die ganze Zeit zusammen, sondern immer nur für eine gewisse Zeit.

Nach unserem Gespräch wurde es Zeit eine Entscheidung zu treffen. Zelten konnten wir hier nicht, auch wenn der Park eine ganz hervorragende Grünfläche besaß. Die Frage war also, ob es uns gelingen konnte, hier eine Herberge aufzutreiben, oder ob wir die Stadt wieder verlassen mussten. Im letzten Fall blühte uns wahrscheinlich eine Strecke von weiteren 28 Kilometern, denn wir mussten an einer Hauptstraße entlang, die sich direkt zwischen Seeufer und Berghang quetschte.

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Doch wir hatten Glück. Etwas außerhalb des Zentrums an der Uferpromenade stießen wir auf ein Hotel, das von vornherein einen einladenden Eindruck machte. Ich weiß nicht warum es uns anzog, aber irgendwie hatten wir anders als bei allen anderen ein gutes Gefühl dazu. Es hieß Hotel Villa Dea und wurde von einem Mann gefüht, der Hauptberuflich Arzt war. Als ihm seine Mitarbeiterin unsere Werbepartnerschaft anbot, sagte er zu und ließ uns ein kleines Zimmer im ersten Stock geben. Als er sich jedoch später mit uns unterhielt, war er sogar so begeistert, dass er uns gleich die größte Suite des Hauses zur Verfügung stellte. Nach so langer Zeit im Freien, was das ein wahrer Segen.

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Gestärkt und erholt verließen wir die Stadt am nächsten Morgen entlang des Seeufers. Die Stadtverwaltung hatte hier keine Mühen und EU-finanzierten Kosten gescheut, um den Touristen eine richtige Uferpromenade zu kreieren, auf der sie noch weit hinaus bis hinter die Stadtgrenzen zu den Hotel schlendern konnten. Dann endete die Promenade und wir wurden von ihr wieder auf die Hauptstraße gespuckt. Glücklicherweise war hinter der Stadt kaum noch Verkehr, denn anscheinend gab es nur wenig Menschen, die zur albanischen Grenze oder von ihr zurück wollten.

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In einem kleinen Örtchen trafen wir auf ein ungleiches Paar, das mit Rucksäcken umherreiste. Sie schienen das perfekte Gegenstück zu dem Pilgerpaar zu sein, von dem wir vor gut einem Jahr am Camino del Norte gehört hatten. Das Paar, bei dem der Mann die Frau alles tragen und sich in den Herbergen dann von ihr verwöhnen und bekochen ließ, meine ich. Bei diesem Pärchen hatte hingegen eindeutig er den schwarzen Peter gezogen. Während sie nur einen kleinen Tagesrucksack trug, der auch eine Handtasche mit Trägern hätte sein können, schleppte der arme Kerl einen Sack auf dem Rücken, der sogar unseren Wagen Konkurrenz machte. Kein Wunder, denn er musste ja gleich das Gepäck für zwei Personen unterbringen. Bei so einer Aufteilung hätte man vermuten können, dass die beiden in einer schweren Verliebtheitsphase steckten, die zumindest ihn blind machte. Doch dafür gab es keine Anzeichen. Überhaupt schien es keine wirkliche Nähe zwischen den beiden zugeben. Abgesehen vielleicht von gelegentlichen Schlenkern, die der junge Mann machte, weil ihn sein Rucksack aus dem Gleichgewicht brachte.

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Je weiter wir der Straße folgten, desto steiler wurde das Ufer. Am Ende mussten wir uns wieder über Serpentinen den Berg hinaufschrauben, bis wir zu einem Pass kamen. Danach fiel die Straße wieder steil bergab und führte durch ein kleines Dorf hindurch direkt zum Ufer zurück.

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Das Dorf war das letzte vor der Grenze und gleichzeitig auch unsere einzige Möglichkeit, uns für heute mit Wasser und Nahrung zu versorgen. Heiko hielt neben einem kleinen Lädchen die Stellung während ich mich auf den Weg durch die Ortschaft machte. Beide machten wir dabei jedoch die gleichen, unheimlichen Erfahrungen. Ich weiß nicht was in diesem Dorf los war, aber mit rechten Dingen ging es dort sicher nicht zu. Es schien das Dorf zu sein, das Verrückte macht. Oder aber das Dorf, in dem alle Verrückten unterkamen, die Mazedonien zu bieten hatte. Das erste Haus an dem ich klopfte, gehörte zu einer alten Frau. Sie saß in der Garage und putzte Paprika. Als ich sie fragte, ob sie uns etwas zu Essen geben könne, lächelte sie und sagte ja. Sie machte jedoch keine Anstalten, ihre Arbeit zu unterbrechen. Vier Mal fragte ich nach und jedes Mal bestätigte sie ihre Bereitschaft zur Unterstützung. Doch sie rührte sich keinen Milimeter und es sah auch nicht aus, als würde sie es jemals tun. Im Nachhinein bin ich mir nicht einmal mehr sicher, ob sie überhaupt jemals etwas anderes tat. Sie wirkte, als würde sie schon ihr ganzes Leben genau so dasitzen und Paprika putzen.

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Mein nächster Versuch verlief nicht viel besser. Ich geriet dabei an einen zahnlosen alten Mann, der mich reglos anstarrte, so als wäre er eine Salzsäule. Ich brachte es nicht einmal zustande, ihn überhaupt um etwas zu bitten, denn sein Anblick verschlug mir die Sprache. So ging es weiter uns selbst bei den Häusern an denen ich etwas bekam, hatte ich immer ein komisches Gefühl. Eine Frau, die in einem Haus mit winzigen Türen und einer winzigen Hofeinfahrt lebte, hielt mir einen zehnminütigen Vortrag darüber, wie arm sie uns ihr Land seien und dass sie mir unmöglich etwas geben könne. Als ich es endlich schaffte, ihr verständlich zu machen, dass ich das gut nachvollziehen konnte und mich von ihr verabschiedete, hielt sie mich zurück, verschwand im Haus und brachte mir eine Tüte mit Brot und Eiern. Jetzt verstand ich überhaupt nichts mehr.

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Noch ehe ich Heiko von meinen Erfahrungen erzählen konnte, platzte es aus ihm heraus: „Wir müssen hier unbedingt verschwinden! Dieses Dorf macht mir Angst. Die Menschen hier sind einfach unheimlich!“

Zunächst hatte es bei ihm noch relativ harmlos angefangen, mit einem jungen Pärchen, dass sich einige Meter von ihm entfernt an einen Tisch gesetzt hatte, um ihn unentwegt zu beobachten. Dann war ein Mann mit zotteligen, verfilzten Haaren und einem ebenso zotteligen Bart gekommen. Er war immer im Kreis um Heiko herumgegangen und hatte dabei unentwegt „Belo, Belo!“ gesagt. Ob das Dorf vielleicht irgendwie verflucht wurde?

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Wir waren jedenfalls froh, als wir es verlassen und auf einer Weide unterhalb der Häuser unser Zelt aufschlagen konnten. Gut versteckt hinter ein paar Büschen. Sicher ist sicher.

 

Spruch des Tages: Kann man wirklich von einer einzigen Touristenstadt auf ein ganzes Land schließen?

 

Höhenmeter: 50 m

Tagesetappe: 15 km

Gesamtstrecke: 12.525,27 km

Wetter: sonnig aber kühl

Etappenziel: Altes Schulgebäude, 88833 Cerenzia, Italien

Hier könnt ihr unser und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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