Weltreise im Low Budget Wohnmobil

von Franz Bujor
28.05.2022 07:09 Uhr

Seit dem Sommer 2021 befinde ich mich auf einer Weltreise mit einem Low Budget Wohnmobil, das ich mir selbst aus einem alten LKW aufgebaut habe. Warum ich das mache, wie es zu dieser Entscheidung kam, welche Erfahrungen ich bisher sammeln konnte und was Sir Lanzelot zu all dem sagt, verrate ich euch hier in diesem Gastartikel bei den Lebensabenteurern.

 
Perfekte Aussicht: Mit Allrad Lada Taiga am Abgrund

Perfekte Aussicht: Mit Allrad Lada Taiga am Abgrund.

 

Ein Roadtrip im Low Budget Wohnmobil durch Südeuropa

Alles begann 2016 mit der Frage, wie lange man eigentlich bis nach Barcelona fahren würde. War es nah genug, um einfach mal einen Abstecher dorthin zu machen? Oder war dieser Gedanke utopisch?

Ein Blick auf die Karte brachte die Erkenntnis, dass man mit dem Auto in gerade einmal rund 20 Stunden dort sein würde, und so beschlossen mein Kumpel Michael und ich kurzerhand, mit meinem alten Lada Taiga und einem selbstgebauten Dachzelt einen Roadtrip durch Südeuropa zu machen.

Urlaub mit dem Lada Taiga nach Barcelona

Urlaub mit dem Lada Taiga nach Barcelona.

 

Unser Weg führte uns quer durch Österreich, Liechtenstein, die Schweiz, Frankreich, Andorra und Spanien bis nach Barcelona. Auf dem Rückweg ging es dann entlang der Südküste Frankreichs nach Italien und von dort wieder zurück nach Österreich. Die Reise war voller Abenteuer und machte uns mehr Spaß, als wir uns hätten träumen lassen. Sogar der Lada hielt durch und ließ uns nie im Stich.

Na gut, vielleicht einmal abgesehen von dieser einen Situation, bei der wir für ein paar Stunden in Barcelona am Strand feststeckten. Aber wegen genau solcher Abenteuer waren wir schließlich auch aufgebrochen. Und am Ende ist ja auch alles gut gegangen. Auch wenn viele das vielleicht anders sehen würden, gehört der Lada Taiga für mich seither ganz klar auf die die Liste der besten Geländewagen der Welt.

Nur am Strand kam die Offroad-Tauglichkeit des Lada Taiga einmal an seine Grenzen

Nur am Strand kam die Offroad-Tauglichkeit des Lada Taiga einmal an seine Grenzen.

 

Wo der Plan schiefgeht, fängt das Abenteuer an!

Gestärkt durch dieses positive Erlebnis wussten wir, so etwas müssen wir wieder machen! Das Jahr darauf war der Balkan dran. An der Küste ging es runter bis ans Schwarze Meer und über Moldawien, Polen und Tschechien wieder rauf nach Österreich. Bei dieser Reise war schon etwas mehr Abenteuer dabei, angefangen vom kaputten Kühler über Zündfehler des Motors bis hin zu extremen Offroadpisten bei ebenso extremen Wetter, mitten in der rumänischen Wildnis. Wenn du dann mitten im Nichts bei strömenden Regen dein Auto versenkst und dir dabei auch noch die Seilwinde abbrennt, dann hast du zwei Möglichkeiten. Du kannst entweder total verzweifeln oder dich über die Situation freuen. Das klingt jetzt erst einmal merkwürdig, aber in diesem Moment konnte ich tatsächlich spüren, dass ich diese Entscheidung bewusst treffen musste. Gebe ich mich meinen Gedankenstimmen der Angst hin und verfalle in Panik, oder nehme ich die Herausforderung an und mache mich voller Tatendrang und Entdeckungsfreude auf die Suche nach einer Lösung.

Die Balkan-Reise: Mit dem Lada Taiga durchs Dickicht

Die Balkan-Reise: Mit dem Lada Taiga durchs Dickicht.

 

Ähnlich war es auch bei einer Fahrt durch die Pyrenäen, als uns plötzlich und vollkommen unerwartet die Lichtmaschine verreckte. Zum Glück waren wir vorbereitet und hatten für solche Fälle eine zweite als Ersatz dabei - Nur um dann festzustellen, dass diese ebenfalls nicht funktionierte. Also mussten wir improvisieren. Weil zu allem Überfluss draußen noch ein Unwetter tobte, zogen wir uns auf eine öffentliche Toilette zurück und bauten uns aus einem Gasbrenner und einem Taschenmesser einen MacGyver-Lötkolben, mit dessen Hilfe es uns gelang, die Bürsten so umzulöten, dass wir aus den zwei kaputten Lichtmaschinen eine funktionierende machen konnten.

Mit diesem improvisierten Lötkolben, ...

Mit diesem improvisierten Lötkolben, ...

... konnte der Lada wieder repariert werden.

... konnte der Lada wieder repariert werden.

 

Ich könnte jetzt noch unzählige solcher Situationen schildern, in denen ich vor der gleichen Entscheidung gestanden bin. Aber die Erkenntnis für mich war und ist immer wieder dieselbe:  In diesen Momenten zählt nur das Jetzt, alles Andere, alle Alltagssorgen sind egal. Das hat auch etwas unglaublich befreiendes! Mann muss sich nur um sein Auto und die Situationen kümmern, in die man sich damit bringt. Ob nun gewollt oder manchmal auch nicht.

 

Reisen als Lebenssinn

Es folgten mehrere Roadtrips mit meinem kleinen Low Budget Wohnmobil, zunächst wieder mit Michael, später dann mit Christian, einem anderen Freund. Dabei zog es uns ebenfalls wieder hauptsächlich nach Südeuropa und in den Balkan. Auch beim Pothole Rodeo sind wir zweimal gestartet. Insgesamt bereisten wir auf diese Weise rund 30 verschiedene Länder. Für mich wurde immer mehr klar, dass das für mich der Sinn des Lebens ist. Ich will kein Haus, keinen festen Job und keine zwei Kinder, wie es mir die Gesellschaft vorschreibt. Ich möchte die Freiheit spüren, indem ich einfach überall hin fahren kann, wo ich möchte. Ich will die Welt mit eigenen Augen sehen und fühlen und die Leute, Länder und Kulturen in echt und selbst erleben. Nicht, wie es in Film und Fernsehen gezeigt wird. Ich wusste schon immer, irgendwann mache ich eine Low Budget Weltreise und dafür möchte ich mir den Traum vom Allradwohnmobil erfüllen.

Die Trips in den Folgejahren mit dem Low Budget Mobil wurden noch um einiges abenteuerlicher

Die Trips in den Folgejahren mit dem Low Budget Mobil wurden noch um einiges abenteuerlicher.

 

Low Budget Weltreise mit dem LKW?

Der Lada Taiga wahr aufgrund seiner Einfachheit und Größe ein super Fahrzeug für Offroadtouren, aber für eine Weltreise wäre er mir dann doch zu klein gewesen. Und weil ich keine halben Sachen mache, entschloss ich mich, einen gleich einen richtigen Lkw zu kaufen und nicht erst einen Bus auszubauen. Für mich war es schon lange klar gewesen, dass ich einen Mercedes-Benz 1017 haben möchte. Wie ich das ganze finanzieren sollte, war mir noch unklar, aber ich glaubte an das Gute im Leben und an das Gesetz der Anziehung. Wenn mich das Schicksal in Situationen wie damals im Schlamm in Rumänien nicht im Stich gelassen hatte, dann würde es das auch jetzt nicht tun. Und so wusste ich, es wird alles gut gehen. Ich suchte im Internet schon einige Zeit nach passenden Modellen, doch nachdem der Entschluss einmal fest getroffen war, musste ich nicht mehr lange weiter suchen. Durch einen glücklichen Zufall lernte ich Oliver kennen, der mir mit seiner Erfahrung zu Seite stand. Dank seiner Hilfe war der passenden Lkw schnell gefunden und auch genau das, was ich wollte. Ich glaubte an mein Gefühl und habe den LKW noch in derselben Woche gekauft. 12000 € hatte ich gespart und der LKW kostet mich bereits 9990 €. Da blieb also nicht viel übrig, um ihn auszubauen, außer meiner eigenen Arbeitskraft. Aber ich glaubte dran, dass es schon alles irgendwie funktionieren würde.

Das neue Expeditionsmobil ist einsatzbereit!

Das neue Expeditionsmobil ist einsatzbereit!

 

Ein Expeditionsmobil aus einem LKW bauen

Die Heimreise von Deutschland mit dem LKW war gleich mal ein 16-stündiges Abenteuer, das ich gemeinsam mit meinem alten Freund Christian erlebte. Einen LKW-Führerschein habe ich mit 18 Jahren klugerweise gemacht, aber außer in der Fahrschule bin ich eigentlich mit keinem LKW mehr gefahren...

Nun baue ich seit 2019 an meinem LKW in dem ich seit Juni 2021 auch dauerhaft zusammen mit meinem Kater Sir Lanzelot lebe. Den LKW wahr ursprünglich ein Tanklöschfahrzeug mit Doppelkabine und einem 2500-Liter-Wasser-Tank. Anfangs hieß es zuerst einmal, alles Unnötige muss runter und das Fahrerhaus muss gekürzt werden. Ich bin gelernter Bauspengler und bin der Meinung das jeder alles schaffen kann, wenn er nur wirklich an sich glaubt. Den gesamten Umbau, mit allen anfallenden Arbeiten, über Schweißen bis zu Hydraulik, Tischlerarbeiten, Elektronik und Wasserinstallation, habe ich alles alleine oder gemeinsam mit meinem Vater bewältigt.

Das Expeditionsmobil ist nun permanenter Wohnsitz von Martin und Sir Lanzelot

Das Expeditionsmobil ist nun permanenter Wohnsitz von Martin und Sir Lanzelot.

 

Die Eckdaten zum LKW:

  • Gewicht: 10t
  • Leistung: 170Ps
    Unterwegs mit dem Expeditionsmobil

    Unterwegs mit dem Expeditionsmobil

  • Tankvolumen: 475 l Diesel, 400l Trinkwasser, 120 l Grauwasser, 10 l Warmwasser
  • Heizung: je 2 kW elektrische Standheizung für Fahrerkabine und Koffer + Split Klimaanlage + Holzofen
  • Stromspeicher: 200Ah LiFePo4-Akkus
  • Stromgewinnung: 1000 Wp Solaranlage
  • Ausstattung: Außendusche, Toilette, Trommelwaschmaschine, Bett mit 140 x 200, Couch in U Form 200x140x70, Esstisch für 2 Personen
  • Abmessungen: Koffer innen 2,11 x 4,25 und 2,10 m Stehhöhe.
  • Als Wohnkoffer dient ein Aufbau eines Trockenfrachttransporters.
Expeditionsmobil am Strand

Expeditionsmobil am Strand.

 

Leben im selbst gebauten Low Budget Allrad-Wohnmobil

Ich habe alles selbst geplant und umgesetzt, wobei “geplant” vielleicht etwas viel gesagt ist. Letztlich hatte ich ein paar Skizzen und Berechnungen zu Papier gebracht, und schon ging es los. Wichtig war mir vor allem, dass ich mich in der fertigen Kabine auch wohlfühle, daher wahr für mich klar, keine weißen Hochglanzschränke, sondern alles aus Holz und möglichst naturbelassen. Ich bin mit dem Ergebnis sehr glücklich und fühl mich sehr wohl auf meinen gut 7 m², die ich nun auch schon seit Juni 2021 auch dauerhaft mein Zuhause nenne. Besonders froh bzw. stolz bin ich darauf, dass ich die Dusche und das WC getrennt habe und auch das Bett mit der Seilzug Konstruktion ermöglichte es, eine große Liegefläche und zudem eine gemütliche Couch unterzubringen. So können auch mal 2 - 3 Leute zu Besuch kommen und man findet noch Platz. Ein Blickfang ist bestimmt auch der alte Holzofen, den ich nur durch Zufall geschenkt bekommen habe und der gleich perfekt gepasst hat. Er hatte tatsächlich genau die richtige Größe für den Bereich, den ich dafür freigelassen habe.

Man sieht also, alles fügte sich zusammen, auch wenn man sich nicht zuvor ewig den Kopf darüber zerbricht, sondern einfach nur mit positiver Energie an eine Sache herangeht. Man muss wissen, was man tut und darauf vertrauen können, dass es gelingt, dann wird es einem auch gelingen.

Die Küche im Expeditionsmobil

Die Küche im Expeditionsmobil.

 

Weltreise mit Katze

Zuletzt fügte ich noch ein sehr wichtiges Element zu meinem LKW-Home hinzu: Einen selbstgebauten Kratzbaum für meinen Kater Sir. Lanzelot, der ja auch wie ich zu einem permanenten Bewohner des Expeditionsmobils wurde. Auch er liebt das Reiseleben genauso wie ich und er fühlt sich richtig wohl im LKW. Das war auch schon während des Ausbaus so, wo er natürlich fast immer dabei wahr und  wo er sich bereits in der Roh-Kabine so verhielt, als wäre er hier zuhause. Er lief schnurrend durch die Gegend oder lag auf seiner Decke, vollkommen unbeeindruckt von Stichsäge, Bohrmaschine und Co.

Unterwegs mit Reisekatze Sir Lanzelot

Unterwegs mit Reisekatze Sir Lanzelot.

 

Wie finanziert man eine Weltreise im Low Budget Wohnmobil

Auf meiner Facebook Seite gibt es auch in Kürze eine detaillierte Auflistung aller Kosten und der Arbeitszeit, die ich in das Projekt hineingesteckt habe. Mittlerweile werden es ca. 55000 € sein, inkl. Kaufpreis des LKWs. Wenn ihr mich jetzt fragen würdet, ob ich mir das leisten kann, würde ich sagen nein! Doch wie es aussieht, konnte ich es am Ende doch irgendwie. Auch dafür spielte mir das Leben wieder in die Karten, auf verschiedene Art und Weise. So wechselte ich beispielsweise aus augenscheinlich zufälligen Gründen 2021 die Firma. Ich wusste es bei der Entscheidung nicht, aber es stellte sich heraus, dass ich dadurch einen riesigen Berg an angesammelten Überstunden plötzlich ausgezahlt bekam, die ich sonst nur hätte abbummeln dürfen. Dadurch hatte ich eigentlich immer genug Geld, um den Aufbau voranzutreiben und wenn mal kein Geld da wahr, dann gab es noch immer genug Arbeit, die "nur" Zeit kostete, sodass ich dennoch stets vorankam.

Wohnzimmer im Expeditionsmobil

Wohnzimmer im Expeditionsmobil.

 

Wie ist das Leben im Low Budget Wohnmobil?

Alles in allem bereichert das Wohnen und Reisen in meinem selbstgebauten Low Budget Wohnmobil und dessen Aufbau selbst, mein Leben ungemein. Ich konnte mir damit selbst beweisen, dass ich alles schaffen kann, wenn ich es möchte. Oft werde ich gefragt, ob das Leben im LKW mit wenig Geld nicht ein großer Verzicht auf Luxus und Komfort ist und eine Menge Entbehrungen mit sich bringt. Ich denke, das ist aber vor allem eine Frage der Perspektive. So wie es für einen Bürger aus der österreichischen Mittelschicht “Verzicht und Entbehrung” bedeutet, ist mein Low Budget Wohnmobil an vielen anderen Orten der Welt Hightech und Luxus pur. Ich selbst sehe es eher als eine Befreiung von so vielen alltäglichen Sachen, die rund um ein Haus oder Wohnung anfallen. Ich habe bei meinem Auszug aus der Wohnung nur einen kleinen Teil meiner Kleidung und zwei bis drei Erinnerungsstücke mitgenommen, der Rest liegt seither in der Garage meiner Eltern und wird verkauft oder verschenkt. Oft habe ich den Eindruck, dass ein Mensch umso glücklicher ist, je weniger er besitzt. Auf mich trifft das in jedem Fall zu, denn mit jedem Stück Ballast, das ich loswerden durfte, fühlte ich mich freier. Und wenn man alles, was man besitzt, ständig mit sich führen muss, bekommen die Dinge eine andere Bedeutung. Reichtum bedeutet dann nicht mehr, so viel Kram wie möglich anzusammeln, sondern optimal mit dem zurechtzukommen, was man bei sich hat.

Unterwegs mit Reisekatze Sir Lanzelot

Unterwegs mit Reisekatze Sir Lanzelot

 

Wo führt die Low Budget Weltreise hin?

Was meine Weltreise in dem Low Budget Wohnmobil anbelangt, halte ich es genauso, wie ich es auch schon beim Aufbau gemacht habe. Ich zerbreche mir nicht lange den Kopf mit einer Reiseplanung, sondern fahre dorthin, wo es mich gerade hinzieht. Das bedeutet es für mich, wirklich frei zu sein. Die Welt liegt offen vor mir und wenn ich Lust auf einen Ausflug ans Meer habe, dann fahre ich an irgendeinen schönen Strand. Oder es zieht mich in die Berge, in die Steppe oder wieder mal auf einen Roadtrip durch Europa. Es wird sich zeigen, und wenn ihr es mitverfolgen wollt, dann findet ihr alle Informationen darüber auf meiner Facebook-Seite!

Eine große Landkarte gehört in jedes Weltreise-Expeditionsmobil!

Eine große Landkarte gehört in jedes Weltreise-Expeditionsmobil!

 

Wir sehen uns!

Viel Spaß und Lebensfreude

Martin Strohmer

 

Bildergalerien

Hier bekommt ihr noch ein paar weitere Impressionen von meinen Reisen mit dem Lada Taiga:
Weltreise mit dem Auto

Für eine Weltreise mit dem Auto ist der Lada Taiga dann vielleicht doch etwas zu klein.

  Hier ist noch der Rest meiner Roomtour durch das große Expeditionsmobil:  
Ich liebe meinen Lada Taiga

Eine dicke Umarmung für einen treuen eisegefährten!

 

Andere Weltreisende:

Hier findet ihr noch spannende Artikel von anderen Reisenden, die auf ausgefallene Art unterwegs sind:  

Bildquellen:

© Martin Strohmer  

19.11.2016

Als wir uns am Morgen von unserem Gastgeber verabschiedeten fragte er uns, ob er uns auch finanziell etwas unterstützen dürfe. Wir waren zunächst sehr überrascht, denn wir hatten zuvor nicht gerade den Eindruck bekommen, als würde er recht viel von uns halten. Langsam aber verstanden wir, dass die kühle, distanzierte und ablehnende Art nichts persönliches war und auch nichts mit uns zu tun hatte. Es war viel eher eine Grundmentalität, an die wir uns erst noch gewöhnen mussten. In den vergangenen Jahren hatten wir viele Länder bereist, in denen ein freundliches Hallo durchaus bedeuten konnte, dass man einander verachtete und auf gar keinen Fall etwas für den anderen tun würde.Wenn uns jemand ablehnend begegnet war, war dies also fast immer ein Grund, sofort die Flucht zu ergreifen und es an anderer Stelle zu probieren. Hier hingegen konnte eine grimmige Mine, ein spontanes Anblaffen und eine misstrauische Verhör-Befragung durchaus soviel bedeuten wie: „Oh, schön dass du da bist! Ich bin wirklich begeistert, von dem was du machst und hoffe, dass ich dir irgendwie dabei helfen kann!“

Der Sturm vom Vortag war verschwunden. Stattdessen begrüßte uns der Morgen nun mit einem heftigen Dauerregen, der auch nicht gerade ein Garant für Gemütlichkeit war. Nachdem der Wind uns gestern gewissermaßen hier her geweht hatte, spülte uns der Regen nun aus Liechtenstein heraus. Die Grenze zur Schweiz verlief in der Mitte des Rheins und gleich auf der gegenüberliegenden Uferseite verläuft die Autobahn. Wer die Brücke überquert steht dann gleich einem ganzen Strauß an Wander- und Radwegen gegenüber, die alle links oder rechts parallel zu dieser Hauptverkehrsader verlaufen. Willkommen in der Schweiz, Ihrem Rad- und Wanderparadies!

Das zweite, was uns in diesem neuen Land begrüßte, waren die alten Bunkeranlagen aus vergangenen Kriegszeiten. Auf den ersten Blick sahen sie wie Ruinen einer längst vergessenen Zeit aus, doch wenn man sie genauer betrachtete, stellte man fest, dass sie noch immer erstaunlich gut in Schuss waren. Heiko erinnerte sich daran, dass er vor einiger Zeit einmal eine Dokumentation über diese Anlagen in der Schweiz gesehen hatte. Darin wurde gezeigt, dass die Regierung hier tatsächlich noch immer eine ganze Reihe von Bunkern unterhielt, die auf dem neusten Stand der Technik waren und im Falle eines Krieges genutzt werden konnten. Die Schweiz war ein kleines, aber weltweit wichtiges Land, das stets auf seine guten Beziehungen baute, dabei aber auf seine Unabhängigkeit pochte. Es war also nur naheliegend, dass man sich Gedanken darüber machte, wie man sich im Zweifelsfall gegen mögliche Übergriffe verteidigen konnte. Wie hoch der Stellenwert des Militärs in diesem Land wirklich ist, wurde uns aber erst einige Tage später klar.

Auf dem Weg durch schmale die Flachebene hörten wir immer wieder ein lautes Donnern, das wir zunächst nicht einordnen konnten. Wir vermuteten Schüsse, konnten aber nicht glauben, dass hier jemand so wild und so kontinuierlich in der Gegend herumballerte. Erst als wir es mit eigenen Augen sahen akzeptierte unser Verstand, dass es genau das war. Auf dem Weg zu unserem Tagesetappenziel kamen wir gleich an vier Schießständen vorbei, die offen in das Tal gebaut worden waren. Einer von ihnen lag direkt neben dem Wanderweg. In der Zeit, die wir benötigten, um vom Schießstand zu den Zielscheiben zu gelangen wurden drei Schüsse abgefeuert. Erst als wir ganz im hinteren Bereich waren, waren wir für die Schützen sichtbar, die nun auf weitere Schüsse verzichteten, bis wir außer Reichweite waren. Obwohl wir wussten, dass wir nicht im Schussfeld waren, zuckten wir doch bei jedem Schuss zusammen und erschraken immer wieder aufs Neue. Es machte einfach kein gutes Gefühl, wenn neben einem jemand mit einem Jagdgewehr herumballerte. Ich kann schon einmal sagen, dass Kriegsgebiete definitiv nichts für mich sind. Dafür bin ich einfach zu unaufmerksam und zu schreckhaft. Diese Erfahrung hier hat mir vollkommen gereicht.

Zu meiner Beruhigung erzählte mir Heiko erst nach diesem Schießstand, dass die Geschosse in ungünstigen Fällen mehrere Kilometer weit abprallen konnten, wenn Sie auf Stahl oder ähnlich hartes Material trafen. Er hatte diese Dinge damals für seinen Jagdschein lernen müssen. Unter diesen Umständen wirkte es nicht gerade verantwortungsbewusst, den Stand so dicht an einen Wanderweg und gleichzeitig auch so dicht an ein Dorf zu bauen. Das Dorf bot jedoch noch etwas anderes, das unsere Aufmerksamkeit auf sich zog. In einer Hofeinfahrt neben einem Einfamilienhaus stand ein Expeditionsmobil, von dem allein die Reifen so groß waren wie wir selbst. Es schien noch ganz neu zu sein und funkelte uns geradezu verführerisch an, so als wollte es sagen: „Schaut mal, vielleicht bin ich ja das richtige Begleitfahrzeug für eure Amerikatour!“ Diesem Ruf konnten wir natürlich nicht widerstehen und so klingelten wir kurzerhand an der Tür des Besitzers. Dieser hatte zu seinem eigenen und unseren Leidwesen nur sehr wenig Zeit, da er gerade mitten in einer Projektarbeit steckte, doch einen kurzen Blick ins Innere des Mobils konnten wir dennoch werfen. Alles in allem machte es keinen schlechten Eindruck und vor allem das Geprassel des Regens wurde sehr gut abgehalten. Dennoch wirkte der Innenraum für unsere Zwecke etwas zu klein, da wir ja später zu dritt unterwegs sein werden. Ganz das Traummobil war es also noch nicht aber es war definitiv eine weitere Inspirationsquelle, die Heiko zu neuen Überlegungen anregte.

Der nächste Ort auf unserer Strecke trug den überaus großartigen Namen Flums. Allein schon deswegen hatten wir uns vorgenommen, hier einen Schlafplatz zu finden, einfach nur um sagen zu können, dass wir eine Nacht in Flums verbracht haben. Flumsigerweise wollte uns dies aber nicht gelingen, da wir hier einfach niemanden erreichen konnten. Dass dies weit mehr ein Segen als ein Fluch war verstanden wir erst am nächsten Morgen, als wir genau deswegen die perfekte Zeit erwischten, um in Ruhe an einer Schnellstraße entlangwandern zu können, die zu jeder anderen Zeit stark befahren gewesen wäre. Eine knappe Stunde später erreichten wir Walenstadt, wo wir von der Frau des evangelischen Pfarrers eingeladen wurden. Die beiden wohnten in einem riesigen, alten Haus, das sich über vier Etagen erstreckte und wir bekamen einen Platz in einem Raum, der normalerweise als Praxis verwendet wurde. Marianne war unter anderem Akupressur-Therapeutin und bot hier sehr erfolgreiche Behandlungen an. Im Laufe des Nachmittags und Abends erfuhren wir von ihr sehr viele spannende Dinge über die Heilung mit Hilfe der Akupressurtechnik.

Das beeindruckendste dabei war die Geschichte, wie sie selbst zur Akupressur kam. Es begann damit, dass sie einen schweren Unfall hatte, von dem sie sich über eine lange Zeit einfach nicht richtig erholen wollte. Die Ärzte sagten ihr immer wieder, dass alles in Ordnung sei und sie sich keine Sorgen machen solle, doch Marianne spürte, dass etwas mit ihr ganz und gar nicht stimmte. Irgendwann war es ihr schon fast peinlich, immer wieder darauf zu pochen, dass man sie noch einmal untersuchen sollte, doch am Ende zeigte sich, dass ihr Gefühl sie nicht trübte. Sie hatte nicht nur einen sondern gleich mehrere gebrochene Halswirbel und das nun schon über Monate hinweg. Der einzige Grund, warum sie überhaupt noch lebte war, dass sich die Wirbel trotz der Brüche nicht verschoben hatten, so dass keine Nervenbahnen getrennt oder zerquetscht wurden. Dennoch führten die Brüche dazu, dass die Nerven in Mitleidenschaft gezogen wurden und eine der Folgen war, dass Marianne jegliches Gefühl im Mittel- und Ringfinger der rechten Hand verlor. Es war, als wären die beiden Finger einfach weg. Sie konnte sie zwar noch immer teilweise bewegen, weil ihr Gehirn den Impuls abgespeichert hatte, dass sich die Finger leicht mitbewegen, wenn man den kleinen oder den Zeigefinger ansteuert, doch wenn sie es nicht sah, bekam sie dies nicht einmal mit. Die Ärzte sagten ihr, dass dies ein chronischer Zustand sei und dass sie die Finger nie wieder würde gebrauchen können. Es war einfach alles tot in ihnen und es gab weder ein Berührungs-, noch ein Schmerz, noch ein Bewegungs- oder Temperaturempfinden.

Zunächst versuchte sie, sich mit der neuen Situation irgendwie zu arrangieren, doch dann stieß sie eines Tages auf eine Akupressur-Therapeutin, die ihr anbot, einige Sitzungen mit ihr zu machen. Zunächst einmal passierte überhaupt nichts, doch nach der dritten Sitzung begannen die Finger plötzlich zu kribbeln. Es war ein Gefühl, als wären sie über Wochen und Monate hinweg eingeschlafen gewesen. Auf der einen Seite freute sie sich natürlich darüber, dass sie nun wieder etwas fühlen konnte, doch auf der anderen Seite war dieses Kribbelgefühl so unerträglich, dass sie es kaum aushalten konnte. Nach einigen weiteren Sitzungen verschwand das Kribbeln jedoch wieder und das Gefühl in den Fingern normalisierte sich wieder. Nun tauchte jedoch ein anderes Phänomen auf. Weil sich ihr Gehirn über einen so langen Zeitraum daran gewöhnt hatte, dass die Finger taub sind, war es nun mit dem neuen Gefühl überfordert und vermittelte daher den Eindruck, als seien die Finger nun etwa doppelt so lang, wie sie wirklich waren. Wenn Marianne also einen Tisch oder eine Wand berührte, hatte sie stets das Gefühl, dass ihre Finger nun eigentlich im Tisch oder in der Wand stecken müssten. Auch dies blieb für eine längere Zeit und dann begannen sie, Stück für Stück immer kürzer zu werden, bis sie schließlich wieder ihre tatsächliche Länge erreicht hatten.

Begeistert von diesem unverhofften Erfolg hatte sie dann selbst begonnen, diese Form der Therapie zu lernen und zu praktizieren. Im Laufe der Zeit war sie darin immer besser geworden und nun konnte sie allein Anhand der unterschiedlichen Druckpunkte einen Menschen ähnlich lesen, wie Heiko es über die Antlitzdiagnose konnte. Wenn ein Klient mit einem Problem, beispielsweise einem Knieschmerz kam, dann drückte sie stets gleichzeitig einen Nah- und einen Fernpunkt, also einen Punkt in der Nähe der Problemzone und einen weiteren, der an einer anderen Stelle im Körper lag, jedoch mit der entsprechenden Stelle verbunden war. Dabei spürte sie immer kleine Impulse in den entsprechenden Druckpunkten, die eine Art Rückkopplung des Körpers waren und ihr genau verrieten, wo das eigentliche Problem saß. Seit wir zu Beginn unserer Reise begonnen hatten, uns mit der Ohrakupressur zu beschäftigen, hatte uns dieses Thema stets stark interessiert. Mit Heidis Lehrstunden in Sachen Fußreflexzonenmassage war das Interesse dann noch einmal neu aufgeflammt. Das Hintergrundwissen, das wir nun bekamen, weckte die Spannung in uns jedoch noch einmal bedeutend mehr und wir bekamen Lust, uns noch weit intensiver damit zu befassen. Aber alles zu seiner Zeit.

Spannend war jedoch auch, was wir von Marianne über Zahnmedizin erfuhren. Wir kamen auf dieses Thema, weil Heiko von seiner Erfahrung vor zwei Jahren in Spanien berichtete. Damals hatte er zwei kleine Löcher in einem Backenzahn gehabt und war damit zu einer Zahnärztin gegangen, die sich bereiterklärt hatte, sich den Zahn auch ohne Versicherungskarte und ohne Geld anzuschauen. Überraschender Weise hatte sie Heiko daraufhin gesagt, dass die meisten Ärzte hier zwar bohren würden, dass dies jedoch vollkommen unnötig sei. Wenn er ein ganz gewöhnlicher Kassenpatient gewesen wäre, dann hätte die Ärztin an einer Bohrung mit anschließender Füllung eine gute Stange Geld verdienen können. Da wir aber ohnehin kein Geld brachten, konnte sie uns offen und ehrlich sagen, dass sich der Zahn auch von ganz alleine wieder regenerieren würde. Damals hatte uns dies überrascht, da ja allgemein bekannt war, dass man Karies sofort entfernen müsse, wenn man verhindern wollte, dass er sich weiter ausbreitete. Jedem Kind war klar, dass ein kaputter Zahn kaputt ist und nur noch durch eine Plombe ersetzt werden konnte. Doch wie sich herausstellte, war dies ein Irrglaube. Zähne heilen genau wie all die anderen Bestandteile unseres Körpers auch. Und warum sollten sie dies auch nicht tun? Knochen wachsen nach komplexen Brüchen wieder zusammen, unsere Haut heilt von alleine und sogar unsere Organe regenerieren sich wieder. Warum sollten die Zähne also eine Ausnahme machen? Richtig, es gibt keinen Grund und sie machen es auch nicht. Der zweite Irrglaube besteht darin, dass wir annehmen, die Löcher würden von außen durch die bösen Bakterien in den Zahnschmelz gefressen. Auch dies erklärte uns die Ärztin noch einmal vollkommen neu. Im Mund haben wir mehr Bakterien als in unserem Darm, und das ist auch gut so, da sonst keine Vorverdauung stattfinden könnte. Unseren Zähnen tun diese Bakterien aber nicht das geringste. Die Löcher, die wir in unseren Zähnen bemerken entstehen auch nicht von außen nach innen, sondern von innen nach außen, da der Körper beispielsweise aufgrund von Mangel- oder Fehlernährung den kalkhaltigen Zahnschmelz abbaut. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn wir sehr stark übersäuert sind, was unter anderem eine Folge von hohem Zucker- und Getreideverzehr ist. Die Lösung für Heikos Zahnproblem lag also nicht im Bohren, sondern darin, unsere Ernährung umzustellen und den Körper mit möglichst viel Calcium und Magnesium zu versorgen. Tatsächlich dauerte es nicht einmal zwei Monate, bis die Löcher vollkommen verschwunden waren.

Als wir Marianne davon erzählten, berichtete sie uns, dass ihr Bruder ebenfalls Zahnarzt sei und ihr die gleichen Fakten erklärt hatte. Anders als viele andere Vertreter seines Berufszweiges hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, seine Patienten über diese Zusammenhänge aufzuklären und nur dann zu bohren, wenn ein Zahn bereits soweit zerstört war, dass es keine Hoffnung auf eine Regeneration mehr gab. Das Kuriose daran war jedoch, dass diese Ehrlichkeit und die damit verbundene frohe Botschaft bei den meisten Patienten nicht zu Begeisterung sondern zur Entrüstung führte. Die Menschen kamen nicht und sagten: „Danke, dass Sie mir tausende von Euro für eine unnötige Zahnprothese, sowie unzählige Behandlungstermine, giftige Füllstoffe in meinem Körper und jahrelange Probleme ersparen!“ Sie entrüsteten sich darüber, dass ihr Arzt sich weigerte, sie zu reparieren und wechselten nicht selten zu einem anderen Zahnarzt, der bereit war, ihr Geld anzunehmen und den unnötigen und leidbringenden Eingriff durchzuführen.

Schließlich erzählte uns Marianne noch eine ganz andere Geschichte, die nichts mit Heilung zu tun hatte, aber dennoch spannend war. Vor vielen Jahren war ihre Familie in ein neues Haus gezogen. Es hatte einig Zeit leer gestanden und hatte sich aus irgendeinem Grund zunächst nicht verkaufen lassen wollen. Eines Tages war Marianne alleine im Haus gewesen und hatte dabei einen Mann gesehen, der vor einem der Fenster stand. Ihr war klar, dass niemand im Haus war und doch konnte sie diesen Mann sehen. Später fragte sie ihre Familie, ob sie irgendetwas darüber wüsste, dass in diesem Haus etwas besonderes vorgefallen wäre, aber diese verneinte. Anders hingegen war es bei den Nachbarn. Diese erzählten ihr, dass sich der Vorbesitzer des Hauses umgebracht hätte und dies genau an der Stelle, an der sie die Erscheinung des Mannes hatte beobachten können. In der Umgebung war es sogar allgemein bekannt, dass es in diesem Haus spukte und viele der Nachbarn weigerten sich, das Haus zu betreten, wenn sonst keiner da war. Als Marianne ihrer Familie davon berichtete, erzählte diese, dass auch sie immer wieder seltsame Dinge im Haus hatte wahrnehmen können. Später, als sie ein weiteres Mal alleine hier war, hörte sie die Treppen knarren und Türen quietschen und sah immer wieder den Mann. Weder sie noch der Rest der Familie fürchteten sich jedoch deswegen. Irgendwie war ihnen klar, dass dieser Mann zum Haus dazu gehörte und da er zuerst hier gelebt hatte, durfte er auch einfach hier sein. Jahre später hörte sie jedoch, dass der Nachbewohner die Sache nicht ganz so locker sah. Er hielt es nur wenige Wochen im Haus aus und suchte dann das Weite.

Spruch des Tages: Mit der richtigen Methode ist alles heilbar.

Höhenmeter: 140 m Tagesetappe: 11 km Gesamtstrecke: 19.325,27 km Wetter: bewölkt und kalt Etappenziel: Gemeindesaal des katholischen Pfarrhauses, 6370 Stans, Schweiz

Hier könnt ihr uns und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

18.11.2016

Anders als ich es vermutet hätte heißt die Hauptstadt von Liechtenstein nicht etwa Liechtenstein-Stadt, sondern „Vaduz“. Genaugenommen ist Vaduz auch nicht wirklich eine Hauptstadt, sondern eher ein Ortsteil mit Regierungsgebäuden. Zu unserer großen Überraschung war Vaduz jedoch vollkommen unspektakulär. Wären wir nicht in Liechtenstein sondern in irgendeinem anderne Land gewesen, hätten wir nicht einmal ein Foto gemacht. Wir hatten irgendeine Besonderheit erwartet, ein imposantes Schloss, eine beeindruckende Kirche, eine historische Altstadt, alte Burgmauern oder wenigstens ein hübsches Rathaus. Oder zumindest pompöse Banken und Einkaufszentren, die darauf hindeuten, dass man sich hier in einem Steuer- und Finanzparadies befindet. Doch es gab nichts.

Vaduz bestand aus einer kleinen Einkaufszeile die nicht ganz so umfangreich und sehenswert war, wie die von Postbauer-Heng. Alle Häuser waren moderne oder halbmoderne Betonbauten, so wie man sie überall dort findet, wo es eigentlich nichts zu sehen gibt. An ihrem Ende stand ein einziges historisches Gebäude. Auch dieses war schlicht und hätten nicht gerade in dem Moment als wir ankamen zwei tiefschwarze Regierungsfahrzeuge davor geparkt, wäre es uns nicht einmal aufgefallen. Neben diesem Gebäude befand sich ein seltsamer, pyramidenartiger Bau, in dem es fast keine Fenster gab. Am ehesten hätte man es für ein Theater halten können, denn die werden ja gerne auf so abstrakte Weise gebaut. Genaugenommen war es von einem Theater auch nicht weit entfernt, denn es war der Liechtensteiner Regierungssitz.

Auf der anderen Seite der Straße befand sich die Kathedrale. Das sie Kathedrale hieß lag vermutlich daran, dass es in Liechtenstein insgesamt keine großen Kirchen gab, so dass man die größte einfach hatte Kathedrale nennen können, auch wenn sie eher wie eine Kapelle wirkte. Auch die von Monaco war damals nicht die beeindruckendste gewesen, die wir je gesehen hatten, doch sie hatte einen ganz eigenen Charme und Stil, so dass man sofort erkannte, dass sie etwas besonderes war. In gewisser Weise passte auch die Vaduzer Kathedrale genau ins Bild, denn wie der Rest der Stadt hatte sie das gewisse nicht.

Als wir die Kirche wieder verließen, wurde unsere Aufmerksamkeit erneut auf das Haus mit den beiden schwarzen Edelkarren gelenkt. Denn nun hatten sich einige Menschen auf den Hof begeben, die von einem Kamerateam und einigen Polizisten begleitet wurden. Darunter befand sich auch die Fürstin von Liechtenstein. Sie sagte ein paar Worte und stieg dann ins Auto ein. Kurz darauf setzte sich die Kolonne in Bewegung. Die Vorhut machten zwei Polizisten auf Motorrädern, die versuchten, den gewöhnlichen Straßenverkehr des gemeinen Fußvolkes aufzuhalten, so dass die Fürstin ohne zu warten aus der Hocheinfahrt hinaus auf die Straße fahren konnte. Doch den Autofahrern war es relativ egal, wer da ihre Fahrbahn kreuzen wollte. Sie nahmen die Polizisten entweder nicht wahr oder nicht ernst und fuhren einfach weiter wie immer.

Wir selbst machten uns nach diesem Aufmarsch der fürstlichen Elite auf zum Vaduzer Medienhaus, wo wir der Liechtensteiner Presse einen Besuch abstatten wollten. Die Zeitung hier trug den Namen „Liechtensteiner Vaterland“ was sich au Deutscher Sicht recht befremdlich anhörte. Gäbe es bei uns eine Tageszeitung mit dem Namen „Deutsches Vaterland“, wäre man sich zu 100% sicher, dass es sich dabei um ein rechtspopulistisches Blatt handelt. Hier war es die ganz normale Tageszeitung.

Nach einem kurzen Gespräch am Empfang trafen wir uns mit dem Redaktionsleiter und einer Fotografin. Dabei erfuhren wir noch ein spannendes Detail über Liechtenstein. Das Land hat insgesamt 35.000 Einwohner, also gerade einmal so viel wie Neumark. Dies ist auch relativ genau die Zahl der Arbeitsplätze die es hier gibt. Rein theoretisch gibt es also eine Vollbeschäftigung. Praktisch gibt es aber natürlich auch Rentner und Kinder, die gar nicht arbeiten, was bedeutet, dass es sogar deutlich mehr Arbeitsplätze gibt, als hier benötigt werden. Es ist also noch genug für die angrenzenden Österreicher und Schweizer da.

Auf dem Weg aus Vaduz heraus kamen wir durch eine Gegend mit lauter großen Beton-Wohnblöcken, die im traditionellen Ost-Block-Stil gehalten waren. Der Anblick irritierte uns, denn eigentlich waren wir davon ausgegangen, dass Liechtenstein eher eine noble, reiche Gegend ist und daher nicht aussehen sollte wie die Städte in Bosnien. Zunächst vermuteten wir, dass die Häuser vielleicht gar nicht bewohnt sind, sondern nur Platzhalter für die Briefkastenfirmen darstellen, die hier offenbar so verbreitet sind. Doch an den Schildern standen ganz gewöhnliche Namen und aus den Häusern kamen Menschen mit genau den fleckigen und zerschlissenen Jogginganzügen, Bierbäuchen und Gesichtsausdrücken, wie man sie klischeehaft an einem solchen Platz erwarten würde. Entweder, die Tarnfassade was so gut, dass man sie nicht durchblicken konnte, oder es sind einfach ganz normale, langweilige, heruntergekommene Wohnblocks, wie man sie überall findet. Etwas wahrscheinlicher ist wohl zweiteres. Eines muss man den Liechtensteinern aber trotzdem lassen. Sie wussten, wie man sich unauffällig gibt. Dass das Fürstentum Einfluss und Macht hat und dass es eine wichtige Rolle in unserem Finanzsystem spielt, steht außer Frage. Und doch merkt man nichts davon. Es ist eine kleine Bergregion, mit einigen kleinen Orten, ohne größere Besonderheiten.

Je weiter es in Richtung Mittag ging, desto heftiger wurde der Sturm. Schon am Morgen war es windig gewesen, aber nun wurde der Wind immer stärker und stärker. Bald schon hatte es unsere heftigsten Tage in Italien übertroffen. Das fiese dabei war, dass es kein gleichmäßiger, sondern ein böiger Sturm war. Für einen kurzen Moment war alles still und dann fegte es einen förmlich von der Straße. Es dauerte nicht lange und die ersten Äste kamen uns entgegen. Es war nun so laut, dass wir uns nur noch schreiend verständigen konnten. Von Gemütlichkeit hatte das nichts mehr. Wir beschlossen daher, unsere Wanderung etwas abzukürzen und noch einen weiteren Tag in Liechtenstein zu bleiben. Im letzten Ort vor der Grenze suchten wir die Kirche auf. Gleich auf dem Weg dorthin trafen wir einen Pfarrer. Er selbst war zwar nicht für den Ort verantwortlich sondern leitete nur den Religionsunterricht in der Schule, aber er konnte uns immerhin an einen Kollegen verweisen. Wenig später stand ich bei diesem vor der Tür und klingelte. Zunächst passierte nichts. Ich klingelte noch einmal und nun öffnete sich die Tür.

„Ist es ein Notfall oder warum stören Sie mich in der Mittagszeit?“ fuhr mich der Mann an, der dahinter zum Vorschein kam. „Naja,“ sagte ich etwas überrascht und zögerlich, „nicht so direkt aber in gewisser Weise schon.“

Jetzt war es gut, dass wir zuvor den Kollegen getroffen hatten, denn dadurch konnte ich nun auf ihn verweisen, was den Mann ein wenig beruhigte. Als ich ihm von unserem Anliegen erzählt hatte, verschwand der Ärger zunehmend aus seinem Gesicht. Wenn ich mir vorstellte, dass ich hier Pfarrer war und jeden Tag irgendjemand angekleckert kam, wenn ich gerade in Ruhe Mittagessen wollte, dann konnte ich den Ärger auch sehr gut nachvollziehen. Einen Platz im Pfarrhaus oder im Gemeindezentrum hatte er allerdings trotzdem nicht für uns. Stattdessen verwies er mich an das Gutenberghaus, das sich nahe der Kirche auf einem Berg befand. Falls es nicht klappen sollte, könnten wir notfalls in der Taufkapelle schlafen aber das kirchliche Seminarhaus war sicher die bessere Adresse.

Wenig später sprach ich mit einer jungen Frau aus dem Seminarbetrieb, die mich an einen älteren Pfarrer weiterleitete. Diesen Mann hatte ich zwar nicht beim Mittagessen gestört, doch seine Stimmung war trotzdem noch um einiges schlechter, als die des Ortspfarrers. Jedenfalls war dies mein erster Eindruck. Er bat mich in ein kleines Besprechungszimmer und analysierte für die nächsten 10 Minuten jede Einzelheit unserer Reise und ihrer Hintergründe. Ich fühlte mich ein wenig wie bei einem Referat in der Schule, bei dem ich eine Hausarbeit geschrieben hatte, die ich nun gegenüber den bissigen Hinterfragungen des Lehrers verteidigen musste. Doch wie es aussah machte ich meinen Job ganz gut, denn am Ende bekam ich ein „Bestanden!“, oder in diesem Fall ein „Ihr dürft bleiben!“

Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich noch nicht, dass der Mann, bei dem es sich um den Ordensleiter einer Priestergemeinde handelte, tatsächlich der freundlichste und offenherzigste seiner Gemeinschaft war. Als er uns wenig später einem Zimmernachbarn vorstellte, kommtentierte dieser unsere Anwesenheit mit einem abschätzigen: „Du musst wissen ob wir hier eine Pilgerherberge sind oder nicht!“ und verschwand wieder in seinem Zimmer.

Tatsächlich empfanden wir die kühle Distanz unserer Gastgeber jedoch als sehr angenehm, denn so hatten wir seit langem mal wieder einen Tag nur für uns. Draußen tobte der Sturm als wolle er die Welt auseinander reißen und wir hatten ein warmes, ruhiges Plätzchen, noch dazu mit einer unvergesslichen Aussicht über die Berge. Anders als Vaduz war dieser kleine Ort tatsächlich sehenswert. Er befand sich am Fuße eines spitzen, felsigen Berges, auf dessen Gipfel eine alte Festung stand. Darunter befand sich das Gutenberghaus und noch etwas weiter darunter stand die alte, natursteinerne Kirche. Alles war umgeben von den hohen Bergen, dessen Gipfel noch immer verschneit waren. So in etwa hatten wir uns die Schönheit von Liechtenstein vorgestellt.

Spruch des Tages: Verdammt, nicht einmal die Staatspolizei wird hier richtig ernst genommen!

Höhenmeter: 590 m Tagesetappe: 26 km Gesamtstrecke: 19.314,27 km Wetter: heiter bis wolkig und windstill, Temperaturen um die 15°C, im Tal eisige Kälte Etappenziel: Pilgerhaus des Klosters Ingebohl, 6440 Brunnen, Schweiz

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Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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