Wie kann man Bulimie ganzheitlich heilen?

von Heiko Gärtner
05.10.2017 16:25 Uhr
Fortsetzung von „Welche Essstörungen gibt es?

Wenn Bulimie in einer Therapie behandelt wird, geht es dabei leider in der Regel nur um eine Unterdrückung dessen, dass man sie auslebt. In der Regel wird dabei jedoch nicht auf die Ursache geschaut, so dass diese aufgelöst und der Patient vollkommen von seiner Essstörung befreit werden kann. In den meisten Fällen ist das Ergebnis daher nur eine Verlagerung der Esssucht auf einen anderen Bereich. Eine der häufigsten Formen ist die sogenannte Sportbulimie.

Was ist Sportbulimie?

„Normalerweise ist Sport auf jeden Fall etwas positives“, erklärte Heiko, „aber in diesem Fall geht es wie beim Essen nicht darum, seinem Körper etwas Gutes zu tun, sondern sich von seinen Gefühlen abzulenken. Auch hier kommt es auf das Maß an. Es gibt einen Punkt, bis zu dem der Körper Muskelgewebe aufbaut und bis zu dem er durch Sport gestärkt wird. Überschreitet man diese Grenze jedoch permanent, schadet man seinem Körper damit wiederum, genau wie mit dem übermäßigen Essen. Außerdem hat man bei der Sportbulimie nicht das Gefühl, dass man Bock hat, Sport zu machen. Man ist nicht mit Liebe, Hingabe und Freude dabei, sondern mit einem Gefühl von Zwanghaftigkeit und Verbissenheit. Man hat das Gefühl so viel Sport machen zu müssen, weil man sonst dick wird oder seine Form verliert.“

„Du meinst“, fragte ich, „Man hat oft Phasen, in denen man das Gefühl hat joggen zu müssen, ob ich nun will oder nicht.“

„Genau!“ meinte Heiko, „das liegt daran, dass das Kernproblem nicht behoben wurde. Die Betroffenen schaffen es durch die Therapie mit dem Kotzen aufzuhören, aber die Fresssucht ist dadurch nicht verschwunden. Du hast sie mal mehr und mal weniger unter Kontrolle, aber im Grunde ist es nichts anderes als das, was jeder Heroinabhängige auch hat. Du kennst es ja selbst aus anderen Bereichen, was es mit dir macht, wenn du mal für eine kurze Zeit auf Entzug gesetzt wirst, oder wie du durchdrehst, wenn der Stoff vor deiner Nase liegt, du ihn aber nicht anrühren darfst.

Magersucht – Das andere Extrem der Fresssucht

Das andere Extrem ist die Magersucht, die paradoxerweise eigentlich auch eine Form der Fresssucht ist. Sie tritt dann auf, wenn man verstanden hat, dass man mit Essen nicht umgehen kann und dass man keinen positiven, heilsamen Bezug dazu hat. Doch anstatt sich der Sucht hinzugeben und alles in sich hineinzufressen legt man sich selbst an die kurze Leine und kasteit sich so weit, dass man nichts oder fast nichts mehr isst. Dabei ist das Selbstbild meist so verschoben, dass man ständig das Gefühl hat, auch wegen der kleinsten Kleinigkeit schon zuzunehmen und immer glaubt zu dick zu sein.

Der ungesunde Mittelweg der Selbstkasteiung

Der dritte Punkt, an den viele betroffene gelangen ist liegt jedoch irgendwo dazwischen. Du hast vom Kopf her verstanden, dass du esssüchtig bist, es aber mit dem Herzen noch nicht begriffen. Deswegen kommt das Gefühl auf von ‚Ich darf nicht aber ich möchte doch so gerne!’ Du hältst dich zwar im Zaum, aber du tust es nicht aus Überzeugung und auch nicht mit Freude, sondern aus einem Pflichtgefühl heraus. Du hältst dich zurück, weil du weißt, dass du kontrolliert wirst und weil du dich für deine Esssucht schämst. Sobald du aber alleine bist, brichst du wieder aus und haust rein wie ein Scheunendrescher. Erst dann kommt die Einsicht zurück und du machst dich selbst dafür fertig, dass du es nicht durchgehalten hast. Aber es geht nicht ums Durchhalten. Solange du das Gefühl hast, es ist ein Durchhalten, ist es für dich ein Kampf. Es ist eine Kasteiung, eine Askese. Du musst dich selbst dazu zwingen und bist nicht mit Freude dabei, sondern mit einem Gefühl des Verzichtes. Das produziert aber jede Menge Säure in dir und ist somit noch ungesünder, als wenn du die Nahrung einfach essen würdest. In dieser Phase ist es also egal, wie du mit Nahrung umgehst, du schädigst dich dabei immer. Ob du dich beherrscht und verzichtest oder ob du dich überfrisst.“

„Na super!“, sagte ich, „Und was kann man dann dagegen tun?“

Essstörungen auflösen: Ein Wechsel der Perspektive

„Du musst das ganze Thema nicht nur verstehen, sondern wirklich von innen heraus begreifen. Du musst spüren, dass du dir selbst eine Freude machst, wenn du gesund lebst. Die Frage, die du dir immer stellen musst, lautet: trägt das gerade dazu bei, dass ich mir selbst das Paradies erschaffe? Dazu musst du natürlich mehr über die Lebensmittel wissen. Solange dir ein Zuckerstück aufgrund deiner Sucht und deinem Verständnis davon lieber ist, als ein frischer Pfirsich, kannst du nicht dagegen angehen. Du musst begreifen, was der Zucker mit dir macht. Dass bereits eine Dosis von einem Teelöffel am Tag reicht, um chronische Entzündungen zu verursachen, dass er dich jedes Mal in einen Todesangstkonflikt stürzt, dass er deine Muskeln verklebt und du deshalb den Berg hinauf keuchst und so weiter. Es muss sich irgendwann besser anfühlen das Zeug nicht zu essen, als es zu essen. Wenn du jemandem dabei zuschauen kannst, wie er eine Tafel Schokolade isst und dich der Anblick vollkommen kalt lässt oder du vielleicht sogar ein leichtes Ekelgefühl bekommst, weil du sagst: ‚Wie kann man seinem Körper nur so etwas antun?‘ dann bist du so weit, dass du deine Zuckersucht los bist.“

Ein Wechsel der Perspektive hilft!

Ein Wechsel der Perspektive hilft!

 

„OK, das verstehe ich!“, sagte ich, „Das ist wie mit dem Rauchen! Da hören die Leute ja auch immer wieder auf und fangen wieder an. Diejenigen, die aber wirklich aufhören, haben oft das Gefühl, dass sie es einfach eklig finden. Wenn sie dann einen Menschen sehen und riechen, der sich eine Kippe ansteckt, dann kommt nicht mehr der Impuls, auch eine rauchen zu wollen, sondern nur noch, dass es ekelhaft ist und man am liebsten den Raum verlassen möchte.“

Auch auf das außen kommt es an: Das Problem mit der Familiensystematik

„Und mit der Esssucht ist es nicht viel anders“, fuhr Heiko fort. „Du musst lernen, deinen Körper wirklich wahrzunehmen und auf seine Signale zu hören. Es muss sich gut anfühlen, zu sagen ‚so viel Essen tut mir gut, mehr brauche ich nicht, deswegen höre ich genau jetzt auf!‘“

Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Allerdings gibt es da noch ein weiteres Problem, und das hat wiederum mit der Einstellung gegenüber der eigenen Familie, den Eltern und den Mitmenschen zu tun.“

„Was meinst du?“ fragte ich.

Typische Reihenhäuser in England

Typische Reihenhäuser in England

„Nimm ganz einfach dein eigenes Beispiel!“ begann Heiko, „Du hast gelernt, dass du dann am meisten Aufmerksamkeit und Liebe bekommst, wenn du nicht aus dem Rahmen fällst. Dieses Prinzip gibt es in fast allen Familien. Wo die Werte hier gesetzt werden ist unterschiedlich, aber trotzdem gibt es fast in jeder Familie eine Normvorstellung an die sich ihre Mitglieder zu halten haben. Oft bedeutet das, dass man das (zum Teil durchaus berechtigte) Gefühl hat, nur dann gemocht zu werden, wenn du weder zu dick, noch zu dünn bist.

Solange einem die eigene Essstörung nicht bewusst ist und man kein Gefühl dazu hat, wie viel man isst, fällt dieser Aspekt kaum ins Gewicht. Du geschaut nur, dass du nicht zu dick wirst und arbeitest dafür dann mit Sport und Fitnessübungen dagegen oder nutzt andere Methoden, um im Rahmen zu bleiben. Sobald du aber weißt, was in dir los ist, bekommst du Angst, dass du ein Wal wirst und dadurch sämtliche Liebe und Anerkennung verlierst. Andere hingegen haben vielleicht gelernt, dass Frauen oder Männer, die außergewöhnlich attraktiv sind, nur noch als Lustobjekte oder reine Körper angesehen werden und damit auch nicht mehr geliebt werden. Essen hat in der einen Familie vielleicht einen besonders hohen Stellenwert und jemand der sehr schlank ist, gilt als abgemagert. Wie will man dabei keine Essstörung erhalten? Vor allem viele Frauen wissen von sich selbst, dass sie abwertend auf andere Frauen schauen, die eine schlankere und schönere Figur haben als sie selbst. Diese Ablehnung wollen sie sich dann auf keinen Fall einbrocken. Dies führt dazu, dass man immer versucht, in einem Mittelfeld zu bleiben und sich aus Angst vor Ablehnung nicht erlaubt schlanker zu werden, auch wenn an es sich eigentlich wünscht. Unbewusst hast du diesen Rahmen in dir, in dem du dich bewegen darfst, um noch gemocht zu werden. Doch der hat leider nichts mit Gesundheit zu tun. Es geht nicht darum, die schlanke, gazellenhafte, artgerechte Figur anzunehmen, die eigentlich zum Menschsein dazugehört, sondern in einem als annehmbar anerkannten Mittelfeld des Figurenspektrums der deformierten Gesellschaftsmenschen zu bleiben.“

Die alte Steinkirche ist heute ein Lieblingsplatz für Pferde.

Die alte Steinkirche ist heute ein Lieblingsplatz für Pferde.

Ich schwieg eine Weile. „Ich glaube, ich verstehe, was du meinst!“, sagte ich dann und fügte nach einer weiteren kurzen Pause hinzu: „Aber wie kommt man da nun raus?“

„Im Grunde, geht es wieder um den gleichen Schritt, über den wir schon oft gesprochen haben“, antwortete Heiko, „Du musst lernen, für dich selbst zu leben und nicht mehr für andere. Du musst zu dir stehen und dich selbst für das lieben, was du bist, anstatt dich zu verbiegen und zu schauspielern um so zu sein, wie andere dich sehen wollen, damit du so viel Liebe wie möglich von ihnen bekommst. Wenn du den Ist-Zustand selbst in Liebe annehmen kannst, dann kannst du auch zulassen, dass er sich wandelt.

Spruch des Tages: Erst wenn du den Ist-Zustand in Liebe annehmen kannst, kann auch eine Wandlung eintreten.

Höhenmeter: 640 m

Tagesetappe: 21 km

Gesamtstrecke: 22.900,27 km

Wetter: bewölkt, leichter Wind

Etappenziel: Kirche, Grinton, England

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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