Vor- und Nachteile vom Auswandern

von Heiko Gärtner
07.02.2017 02:24 Uhr

19.01.2017

Der freundliche Stadtmitarbeiter hatte uns sogar einige Matten und Teppiche in die Umkleidekabine des Sportplatzes gelegt, in der wir nächtigen durften. Dennoch zogen wir nach kurzer Überlegung in den angrenzenden Duschraum um, da dieser wesentlich kleiner war, aber die gleiche Heizung hatte. Wirklich warm wurde es auch hier nicht, aber man konnte es dennoch relativ gut aushalten, wenn man sich in all seine Kleidung und in die Schlafsäcke kuschelte. Später am Nachmittag klopfte es an unsere Tür und zwei Frauen traten ein. Sie hatten von uns gehört und hatten uns Brot, Käse, Obst und etwas Kaffee vorbeigebracht. Eine der Beiden stammte aus Deutschland und war vor einiger Zeit mit ihrem Mann hier her ausgewandert. Gemeinsam schauten wir uns die kleine, aber sehr beeindruckende Dorfkirche an und anschließend wurden wir noch auf einen Tee, einen Wurstsalat und ein frisches, selbstgebackenes Brot zu ihnen eingeladen.

Es wurde ein spannender Besuch, denn der Mann spiegelte uns noch einmal deutlich, was passierte, wenn man seine Lebensaufgabe zwar spürte, aber versuchte, ihr auszuweichen. Er war ein sehr reflektierter und belesener Mann, der sich bereits viele Gedanken über das Leben und die Welt gemacht hatte. Er wusste, wie man die Gefühle und Gedanken von Menschen anhand ihrer Mimik und Gestik lesen konnte und er wusste auch, dass Krankheiten nicht einfach Schicksalsschläge waren, sondern eine Kernursache hatten. Doch er hatte sich stets dafür entschieden, lieber nicht so genau darüber nachzudenken und die Hinweise lieber ein Stück beiseite zu schieben, oder ihnen auszuweichen. Ähnlich wie Heiko hatte er gemerkt, dass man umgeben von Lärm nicht gut und vor allem nicht gesund leben konnte. Das System in Deutschland war ihm mehr und mehr als negativ aufgefallen und so hatte er schließlich beschlossen, es hinter sich zu lassen und seinen Lebensabend an einem ruhigen Platz in Frankreich zu verbringen. Bevor er diesen Ort hier ausgewählt hatte, war er extra mehrere Male hergefahren und hatte genau darauf geachtet, dass er nirgendwo Verkehrslärm hören konnte. Denn dieser hatte ihn in Deutschland am meisten gestört.

Das Problem war nur, dass dieser Lärm für ihn, ähnlich wie für uns eine Spiegelung der eigenen inneren Themen war, vor denen man nicht weglaufen konnte. Es dauerte nur ein paar Jahre, da begannen die Franzosen im Rahmen ihres wirtschaftlichen Aufschwungs immer mehr Auto zu fahren, so dass der Verkehr auch hier um ein vielfaches zunahm. Unser Gastgeber reichte beim Bürgermeister sogar Konzepte und Vorschläge ein, wie man den Hauptverkehr aus der Ortschaft fernhalten konnte, doch das Interesse war gering. Die Franzosen schienen sich sogar über den zunehmenden Verkehr zu freuen, da ihnen dieser als Zeichen des kommenden Wohlstandes verkauft wurde. Doch nicht nur der Verkehrslärm war auffällig, auch die Antlitzzeichen, die der Mann im Gesicht trug, zeigten deutlich, dass es an der Zeit war, sich seiner Herzensaufgabe anzunehmen und nicht mehr länger davor wegzulaufen. Es war noch einmal ein deutlicher Hinweis für uns und vor allem für mich, denn das Ausweichen oder Hinauszögern in diesem Bereich war ja eine meiner Lieblingstätigkeiten. Als wir am nächsten Morgen erwachten, schien es zum ersten Mal seit Tagen windstill zu sein. Dafür aber war es so kalt, dass unsere Sohlen fast an der Straße festfroren. In der Nacht musste es bis auf -15°C runter gekühlt haben, denn nun war sogar der Kanal mit einer beachtlichen Eisschicht überdeckt. Die Sonne schien, hatte aber nur wenig Kraft und kam gegen die Kälte nicht an. Am Mittag kehrte dann auch der Wind zurück und machte alles noch einmal ein gutes Stück ungemütlicher. Es ließ sich nicht leugnen, wir hatten Winter! Und das nicht nur auf dem Kalender, sondern nach allen Regeln der Kunst. So kalt und vor allem so langanhaltend und konstant kalt war es auf unserer ganzen Reise noch nicht gewesen.

Da war es nur gut, dass der Fluch der mühsamen Schlafplätze erst einmal wieder gebrochen zu sein schien. Auch heute bekamen wir bereits nach wenigen Minuten einen Platz und dieses Mal war er sogar richtig gut geheizt. Zum ersten Mal seit Wochen konnten wir wieder einmal eine Vollwäsche unserer Kleidung vornehmen. Sie dauerte rund eine Stunde und noch immer hängen unsere Sachen überall im Raum verstreut. Gerade als wir fertig waren kam der Bürgermeister zu Besuch, der sehen wollte, wen er hier eingeladen hatte. Wie er feststellen musste, waren es zwei großgewachsene, unrasierte Kerle in langen Unterhosen, die inmitten einer Burg aus nasser Kleidung saßen und den Raum auf gut 26°C gebracht hatten. Er hätte sich keinen besseren Zeitpunkt aussuchen können, doch er sah alles ganz entspannt und bat uns sogar um ein Foto.

Spruch des Tages: Wohin man auch reist, man nimmt sich selbst immer mit.

Höhenmeter: 40 m Tagesetappe: 18 km Gesamtstrecke: 20.404,27 km Wetter: Sonne, Gegenwind und Eiseskälte Etappenziel: Räume für den Kommunionsunterricht, 11170 Villeséquelande, Frankreich

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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